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Die Macht der Hoffnung

Ein bloßes Versprechen gibt neue Hoffnung

„Niemand, der die Umstände nicht kennt, kann sich vorstellen, in welch trostloser Verfassung wir in den letzten Monaten waren und wie verändert wir nun sind, nach Ihrem freundlichen Brief. Wir sind voller neuer Lebenskraft, Mut und Bereitschaft, zu arbeiten - und all das ist Ihnen zu verdanken.“

Wien/Brooklyn

In Abwesenheit näherer Verwandter in Amerika blieb Familie Metzger in Wien nichts anderes übrig, als einen Cousin 2. Grades, Rechtsanwalt Leo Klauber in Brooklyn, um Hilfe zu bitten. Herr Klauber war nicht imstande, seinen österreichischen Verwandten selbst Bürgschaften zu beschaffen, versprach aber, sich um sie zu bemühen. In Eva Metzger-Hohensteins Antwort auf sein Versprechen vom 1. November 1938 ist das Ausmaß ihrer Erleichterung deutlich spürbar: Nach Monaten der Angst und der Verzweiflung fühlten sich die Metzgers Dank ihres Cousins durch die realistische Aussicht auf Emigration neu belebt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Korrespondanz zwischen Laura und Leonard Yaffe, AR 11921

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Source available in English

Protest durch den Stimmzettel

Gefährdete Demokratie

„Wir alle, die wir nur etwas vertraut sind mit der amerikanischen Tagespolitik, wissen, dass der von uns allen aufs höchst verehrte Präsident der Vereinigten Staaten nie auch nur daran denken würde, diese Gesetze in rein persönlichem Sinne auszulegen. Was gibt uns aber die Garantie, dass nicht einstmals ein Nachfolger sie so auslegen würde?“

New York

Die Tatsache, dass sie sich den Gefahren des Nazismus entzogen hatten, bedeutete nicht, dass es für die Einwanderer an der Zeit sei, unachtsam zu werden: Das Editorial der November-Ausgabe des Aufbau ermahnte die Neuankömmlinge, sich Kenntnisse über das Funktionieren der amerikanischen Politik anzueignen, um Entwicklungen zu verhindern, die denen glichen, durch die die gegenwärtige Regierung in Deutschland an die Macht gekommen war. Insbesondere warnt der Verfasser vor einer Beschneidung der Rechte mit „verfassungsmäßigen“ Mitteln. Der wirksamste Protest gegen Versuche, die Demokratie zu untergraben, bestehe im „Protest durch den Stimmzettel.“ Nur die Kandidaten, die für den wahren Amerikanismus, wie er ihn sah, stünden – für Frieden und Gerechtigkeit oder, mit anderen Worten, für Demokratie – verdienten, gewählt zu werden.

Abschied im Schatten der Politik

Ein Komponist findet seinen Ort

Hollywood

Herr Wachsmann, ein Industrieller in Königshütte, Oberschlesien, versuchte, seinen begabten Sohn Franz davon abzuhalten, die brotlose Karriere eines Musikers einzuschlagen. Für das jüngste seiner sieben Kinder stellte er sich eine solidere Karriere vor. Aber Franz war nicht abzubringen: während er für kurze Zeit als Kassierer in einer Bank arbeitete, benutzte er sein Gehalt, um seine eigentlichen Interessen zu finanzieren: Klavier-, Musiktheorie- und Kompositionsunterricht. Nach zwei Jahren in dem ungeliebten Beruf ging er nach Dresden, später nach Berlin, um Musik zu studieren. Der Komponist Friedrich Hollaender, der die Begabung des jungen Mannes erkannte, bat ihn, seine Partitur für den legendären Film „Der blaue Engel“ mit Marlene Dietrich (1930) zu instrumentieren. Als Franz 1934 von Nazi-Schlägern verprügelt wurde, bedurfte er keiner weiteren Überredung, Deutschland zu verlassen: noch am selben Abend bestieg er einen Zug nach Paris. 1935 zog er in die Vereinigten Staaten, wo er unter dem Namen „Waxman“ schnell zu einem gesuchten Filmusikkomponisten wurde. Am 3. November 1938 kam Richard Wallaces Film „The Young in Heart“ in die Kinos – mit Filmmusik von Franz Waxman.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Evelyn Pearl Family, AR 6292

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Ein Mädchen geht voran

Hoffnung auf eine Zukunft in Palästina

„Ich stel mir vor das es Euch dorten gut geht. Es kommt mir vor nach eueren Schreiben wie in einem Paradis. Liebe Lotte du kannst mir glauben ich möchte an euerer Stelle sein, den das Leben hier ist sehr traurig und fad überhaupt jetzt wo Benno nicht zuhause ist.“

Wien/Gan Schmuel

Die Ankunft von Gertrude Münzers erstem Brief aus Palästina war ein Anlass zu Freude, Erleichterung und Hoffnung für ihre Familie, die in Wien zurückgeblieben war. Die Münzers waren eine gut integrierte Familie, aber nach der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland wandte sich das Blatt, und sie gerieten zunehmend in Bedrängnis: Zunächst wurden sie aus ihrer Wohnung geworfen, dann verlor Moses Münzer seine Stelle. Mit Unterstützung ihrer Eltern ging Gertrude als einziges Mitglied ihrer Familie mit einer zionistischen Jugendgruppe nach Palästina. Angeregt durch ihr Beispiel, war ihr älterer Bruder Benno auf Hachscharah gegangen. In seiner Ratlosigkeit bittet ihr Vater in seinem Antwortbrief seine 15jährige Tochter inständig, im Kibbuz oder anderswo um Unterstützung für ihn nachzusuchen, damit er mit dem Rest der Familie nachkommen kann.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gertrude Knopf Familie, AR 11692

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Mehr Moskitos als in Palästina

Texanische Gastfreundschaft erleichtert Flüchtlingen den Neubeginn

„Das zweite ist die kaum glaubliche Gastfreundschaft, die jedem in diesem Land entgegengebracht wird. Und dabei geschieht nichts mit besonderer Aufmachung, sondern die Leute lassen einen gleich in ihrem Hause mitleben, als ob man zur Familie gehörte. Und der Polizist oder die Verkäuferin - ganz gleich, wer es ist - alle sind gefällig, weil sie gar nicht anders können.“

Houston, Texas

Mit einer dokumentierten Anwesenheit, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht, und als zweitgrößte Gemeinde Deutschlands, waren die Frankfurter Juden ein zutiefst etablierter Teil der Gesellschaft. Doch unter den Nazis wurden sie, wie alle deutschen Juden, wie Fremde in ihrer eigenen Stadt und in ihrem eigenen Land behandelt, und viele verließen Deutschland. Die November-Ausgabe des „Jüdischen Gemeindeblatts für Frankfurt am Main“ zeigt die Allgegenwart des Themas „Emigration“: Zahlreiche Inserate boten Dienstleistungen und Ausrüstung speziell für Auswanderer. Der „Hilfsverein der Juden in Deutschland“ bot die letzten Neuigkeiten über die Auflagen zur Einwanderung in verschiedene Länder, aber auch eine Warnung, nicht Betrügern in die Falle zu gehen, die Auswanderungswilligen beträchtliche Summen für nutzlosen Rat abnahmen. Ein Beitrag fällt jedoch aus dem Rahmen. In einem Brief aus Houston, Texas, teilt eine frühere Frankfurterin ihre ersten Eindrücke mit: Die Hitze war eine Herausforderungen, Kartoffeln spielten auf der amerikanischen Speisekarte keine ausreichend große Rolle, Mücken und Mückengitter („more mosquitos than in Palestine“) und Plastikblumen, wie auch Riesenspinnen und fliegende Kakerlaken waren gewöhnungsbedürftig. Aber andererseits gab es auch Einbauschränke und große Betten, und, das Allerbeste, die „kaum glaubliche Gastfreundschaft“ der Einheimischen.

Abschied für immer?

Trennung um des Überlebens Willen

„Edith lernt jetzt fleissig spanisch, denn es besteht eine leise Aussicht, dass sie nach Südamerika kommt. Wir sind sehr traurig darüber, denn wir sind uns klar, dass das einen Abschied fürs Leben bedeutet, und wir sind trotz des Wissens um die Notwendigkeit ihrer Ausreise fassungslos.“

Wien/Brooklyn

Aus der blühenden neunzehnjährigen Idealistin Hedwig Weiler, in die sich Franz Kafka 1907 bei einem Ferienaufenthalt in Triesch (Mähren) verliebte, ist inzwischen eine promovierte Akademikerin und die Ehefrau des Ingenieurs Leopold Herzka geworden. Die Ereignisse des Jahres 1938 in Österreich haben zum Auseinanderdriften ihres Freundeskreises in alle Himmelsrichtungen geführt. Am 6. XI. 1938 zählt sie in einem Brief an ihre ehemaligen Wiener Nachbarn, die nach Amerika ausgewanderte Familie Buxspan (später Buxpan), eine lange Reihe von Verwandten und gemeinsamen Freunden auf, die entweder bereits emigriert sind oder beabsichtigen, es zu tun. Besonders schwer ist für Hedwig Herzka die Aussicht auf die Auswanderung ihrer Tochter Edith nach Südamerika, und ihre Nerven liegen blank.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Max Buxpan, AR 6141

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Mord in Paris

Ein Akt der Verzweiflung

Paris

Am 3. November 1938 hatte Herszel Grynszpan, ein junger Jude polnischer Abstammung, Nachricht erhalten, seine Eltern und zwei Geschwister seien aus ihrem Wohnort Hannover nach Polen vertrieben worden. Das polnische Parlament hatte kürzlich ein Gesetz erlassen, laut dem Bürger, die seit fünf oder mehr Jahren im Ausland waren, ausgebürgert werden konnten. Aus Furcht, 70.000 polnische Juden würden unwiderruflich in Deutschland bleiben, hatte das Naziregime wenige Tage zuvor etwa 17.000 von ihnen deportiert. Herszel, dem bereits 1936 die Einreise nach Frankreich gelungen war, lebte zu diesem Zeitpunkt bei Onkel und Tante in Paris. Aufgebracht über das Schicksal seiner Landsleute, betrat er am 7. November die deutsche Botschaft, erschoss einen deutschen Karrierediplomaten, den 29jährigen Ernst vom Rath, und wurde sofort festgenommen.

Politische und andere Erdbeben

Die Perspektive eines Kindes

„Es ist ein Glück, das ich schon mein Tagebuch angefangen habe! Denn wir leben ja in einer so abwechslungsreichen Zeit!“

Wien

Tage nach seinem 12. Geburtstag am 15. April 1938 musste Harry Kranner, zusammen mit all seinen jüdischen Schulkameraden, das Realgymnasium Kandlgasse in Wien verlassen. Im November waren Harrys Mutter Gertrude und sein Stiefvater Emil Fichmann damit beschäftigt, Vorbereitungen zur Auswanderung zu treffen. Harry zeigt sich sehr enthusiastisch über die Aussicht des Reisens und über die verschiedenen Ausrüstungsgegenstände, die er bekommt: im Eintrag für den 8. November in dem neuen Tagebuch, das ihm seine Mutter gegeben hat, damit er seine Auswanderungserfahrungen festhalten kann, berichtet er begeistert von seinen neuen Lederhandschuhen. Aber der größte Teil des Eintrags beschäftigt sich mit dem Erdbeben in der vergangenen Nacht.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Glück im Unglück

Totale Zerstörung und ein bisschen Glück

„Es ist bei uns nicht ein Stück ganz geblieben. Alles Geschirr kaputt, alles Essbare auf den Boden geschmissen, Mehl, Zucker etc., alles zerstreut, zum Teil noch zertrampelt, wie Kuchen etc., man kann sich das nicht vorstellen.“

Ludwigshafen/New York

Richard Neubauer hatte Glück: Als während der Novemberpogrome, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, Nazi-Schläger den Besitz seiner Verwandten in Deutschland zerstörten, war er bereits in New York, in Sicherheit. In diesem Brief beschreibt ihm sein Bruder Fritz in lebendigen Einzelheiten die schreckliche Zerstörung, die über die Juden und ihren Besitz gekommen war und den Schrecken, den das brutale Vorgehen der Nazis hervorgerufen hatte. Die Brüder hatten von ihrem Onkel die Druckerei Neubauer in Ludwigshafen geerbt, die infolge der Zerstörung der freien Presse durch die Gleichschaltung unter den Nazis sämtliche Geschäfte eingebüßt hatte. Dank einer Reihe glücklicher Zufälle waren Fritz, seine Frau Ruth und ihre beiden Kinder im Besitz von Fahrkarten, mit denen sie legal in die Schweiz einreisen konnten. Ruth hatte sie aus den Trümmern ihrer Wohnungseinrichtung gerettet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Otto Neubauer, AR 25339

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Jahreschronik 1938

Die Novemberpogrome

Die in Brand gesetzte Synagoge in Bamberg in der Nacht vom 9. auf den 10. November.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November kommt es in Deutschland, Österreich und dem Sudentenland zu gewaltsamen Übergriffen auf die dort leben den Juden. Die Pogrome sind staatlich sanktioniert. Mehr als 90 Juden werden in dieser Nacht getötet. 267 Synagogen werden in Brand gesteckt oder auf andere Weise zerstört, Geschäften, die von Juden geführt werden, werden die Fenster eingeworfen, Gemeindezentren und Privathäuser werden geplündert und zerstört. Nationalsozialistische Randalierer schänden jüdische Friedhöfe, Krankenhäuser und Schulen. Polizei und Feuerwehr schauen tatenlos zu. Die „Kristallnacht“ stellt einen doppelten Wendepunkt dar im ohnehin schon schicksalsträchtigen Jahr 1938: Die antijüdischen Diskriminierungen der Nazis kennen keine Grenzen mehr. Für viele Juden sind die November-Pogrome das letzte Warnsignal, die Flucht zu ergreifen.

Zur Jahreschronik 1938

Solidarität

Jüdische und christliche Organisationen unterstützen Flüchtlinge in Brasilien

„Lieber Bernhard und liebe Anni, lasst doch bitte auch gar nicht[s] unversucht. Nur an Euch hängen wir doch unsere einzige Hoffnung zum Leben.“

Gemen/Porto Alegre

Obwohl das Klima unter dem Vargas-Regime in Brasilien zunehmend anti-jüdisch wurde, konnten Flüchtlinge auf die Unterstützung von Verbündeten zählen: bereits 1933 war in Sao Paulo eine Hilfsorganisation für deutsch-jüdische Flüchtlinge ins Leben gerufen worden, und in Porto Alegre, wohin Bernhard und Anni Wolf aus Ostfriesland vor kurzem geflohen waren, hatten Flüchtlinge 1936 einen Kultur- und Wohlfahrtsverein gegründet. Die Haltung der katholischen Kirche war nicht eindeutig; nichtsdestotrotz leistete auch ein katholische Hilfskomitee für Flüchtlinge den neu ins Land Gekommenen bedeutende Hilfe. Nach einem erfolglosen Versuch beim Konsulat in Köln, ihre Einreise nach Brasilien in die Wege zu leiten, setzten Bernhards Bruder Richard und seine Frau Jola nun alle Hoffnung in ihre Verwandten in Brasilien.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Bernhard Wolff Familie, AR 5482

Original:

Archivbox 1, Ordner 9

Brandstiftung

Nazi-Bürokratie

„Eine Baugenehmigung für die Wiedererrichtung der Synagoge an derselben Stelle ist ausgeschlossen.“

Chemnitz

Während die jüdische Bevölkerung der Stadt versuchte, die brutale Gewalt zu verarbeiten, die sie zwei Tage zuvor erlebt hatte – die prächtige Synagoge war in der Pogromnacht in Brand gesteckt und zerstört und 170 Mitglieder der Gemeinde ins KZ Buchenwald deportiert worden – wurde der Vertreter der Gemeinde, der Kaufmann Josef Kahn, vom Bürgermeister der Stadt kontaktiert: mit unfassbarem Zynismus forderte er, die Ruinen der Synagoge, die in der Nacht vom 9. auf den 10.11. „in Brand geraten“ sei, seien innerhalb von drei Tagen zu entfernen. Falls der Anordnung nicht innerhalb des angegebenen Zeitrahmens Folge geleistet werde, werde das Baupolizeiamt die Räumung auf Kosten des Besitzers veranlassen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Chemnitz, Sammlung der Juedischen Gemeinde. AR 813

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Keine Spur von Onkel Arthur

Konzentrationslager als Kollektivstrafe

„Vorläufig wurden nur 2 Verordnungen verlautbart: die 1., dass bis Januar alle jüdischen Betriebe aufgelöst sein müssen. Die 2. war, dass den Juden einen Betrag von 1 Milliarde Reichsmark auferlegt wird. Brrrrrr!“

Wien

Harry Kranner war 12 Jahre alt, als die Nazis eine Welle anti-jüdischer Gewalt inszenierten, wie es sie in diesem Umfang und in solcher Intensität noch nie gegeben hatte – angeblich ein „spontaner Ausbruch des Volkszorns“ als Reaktion auf die Ermordung eines Angestellten der deutschen Botschaft in Paris durch einen jungen Juden. Harrys Tagebucheinträge zeigen jedoch, dass er sich des Geschehens um ihn herum sehr wohl bewusst war. Am frühen Morgen des 10. November, als die grausamen Ereignisse der Nacht von Deutschland nach Österreich hinüberzuschwappen begannen, waren zwei Gestapobeamte in die Wohnung der Familie in Wien gekommen – angeblich auf der Suche nach Waffen. Harry verstand, welches Glück er gehabt hatte, mit dem Schrecken davonzukommen: er hatte von Juden gehört, die in ihre Wohnungen ein- oder aus ihnen ausgesperrt worden waren. Aber eine große Sorge blieb: am 12. November gab es noch immer keine Spur von seinem Onkel Arthur, der mit Tausenden von anderen Juden festgenommen worden war. Aufgrund eines Radioberichts, dass alle Festgenommenen vom Westbahnhof aus in die Konzentrationslager Dachau und Mauthausen deportiert werden sollten, eilten Harrys Vater und Tante dorthin, doch ohne Erfolg. Inzwischen hieß es, man werde den Juden ein erhebliches Bußgeld auferlegen – für die Gewalt, der sie selbst zum Opfer gefallen waren.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Jahreschronik 1938

Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben

Ein in der Progromnacht zerstörtes Geschäft in Magdeburg im November 1938.

Die nationalsozialistische Regierung Deutschlands erlässt die “Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben”. Von nun an ist es Juden verboten, in Einzelhandel und Handelsagenturen zu arbeiten und ein Handwerk auszuüben. Darüber hinaus dürfen Juden keine Güter und Dienstleistungen mehr anbieten. Kurze Zeit später, am 3. Dezember 1938, werden Juden zum Verkauf ihrer Immobilien gezwungen und ihnen die Verfügung über ihre Ersparnisse entzogen.

Zur Jahreschronik 1938

Solidarität

Die öffentliche Meinung in Großbritannien ist einstimmig

„Die erste Lehre, die wir aus den Verfolgungen ziehen sollten", sagte Sir Archibald, „ist die dringende Notwendigkeit einer großzügigen Erfüllung britischer Verpflichtungen gegenüber den Juden in aller Welt und dem Völkerbund gemäß dem Palästina-Mandat.“

London

Nach Ansicht der Jewish Telegraphic Agency waren alle Teile der Öffentlichkeit in England vereint in ihrem Entsetzen über den Ausbruch anti-jüdischer Gewalt in Deutschland: Indem sie „Empörung und Ekel“ zum Ausdruck brachten und die jüngste anti-jüdische Gewalt in Deutschland als „Rückfall in die Barbarei“ und als „unmenschliche Raserei“ bezeichneten, verurteilten sie die von den Nazis inszenierten Pogrome. Manche, wie die Sunday Times und Sir Archibald Sinclair, der Führer der Liberalen Partei, nahmen die Geschehnisse zum Anlass, die Notwendigkeit einer nationalen Heimstätte für die Juden zu bekräftigen.

Zerstörte Pracht

Ein Gotteshaus geht in Flammen auf

Wiesbaden

Am 13. August 1869 war die Synagoge am Michelsberg in Wiesbaden feierlich ihrer Bestimmung zugeführt worden. Der Bau sollte den gewachsenen räumlichen Bedürfnissen der Gemeinde Rechnung tragen, gab aber auch Zeugnis von ihrem gemehrten Wohlstand und bürgerlichen Selbstbewusstsein. Im Beisein der Vertreter anderer Religionsgemeinschaften hatte Rabbiner Süskind das liberale Gotteshaus als „Pflanzstätte vaterländischer Tugenden“ bezeichnet, das nicht nur im Kreise der eigenen Glaubensbrüder, sondern „auch im weiteren Kreise der Menschheit“ seine einigende Kraft bewähren solle. — Von dem prächtigen Gebäude im maurisch-byzantinischen Stil war nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November nur die Außenwand stehengeblieben – im Innern war es völlig ausgebrannt.

Sensibler Exzentriker

Ein politischer Aktivist gibt auf

Berlin

In diesem Portrait eines jungen Mädchens zeigt sich der eher als scharf bekannte Künstler John Hoexter von einer ungewöhnlich milden Seite. Der Expressionist und Dadaist war ein linker Aktivist und Idealist, der nichts vom Geldverdienen verstand: jahrelang steuerte er Beiträge für das Magazin „Der blutige Ernst“ bei, das undogmatisches linkes Gedankengut verbreitete. Die erstklassigen Mitarbeiter des Blattes arbeiteten ohne Bezahlung. Hoexters finanzielle Situation wurde auch dadurch belastet, dass er beim Versuch, sein Asthma unter Kontrolle zu halten, schon früh im Leben morphiumsüchtig geworden war. So war er gezwungen, sich neben seinem erheblichen künstlerischen Talent auch Fähigkeiten als „Schnorrer“ anzueignen. Er war zu Hause im Kreis der Bohemiens, die Orte wie das „Cafe Monopol“ und das „Romanische Cafe“ bevölkerten. Nach der Machtübergabe an die Nazis 1933 schrumpfte Hoexters linker Freundeskreis mehr und mehr, was ihn, zusammen mit der fortschreitenden Erniedrigung der Juden durch das Regime, schwer belastete. Unter dem Eindruck der während der Pogromnacht erlebten Gewalt beging Hoexter am 15. November Selbstmord.

Jahreschronik 1938

Ausschluss jüdischer Kinder vom Schulbesuch

Ein Schüler übt Hebräisch in der jüdischen Goldschmidt-Schule in Berlin, 1938.

Die Nationalsozialisten verweisen jüdische Kinder der öffentlichen Schulen. Jüdische Kinder dürfen nur noch segregierte jüdische Schulen besuchen, die die jüdischen Gemeinden führen und finanzieren müssen — zu einem Zeitpunkt, zu dem jüdischen Gemeinden jegliche wirtschaftliche Grundlage bereits entzogen ist.

Zur Jahreschronik 1938

Nur Hilfe – egal woher

Versuch der Hilfe für die in Deutschland Verbliebenen

„Wir sind ratlos und unglücklich, dass wir aber auch gar nichts tun können, was unseren Leuten ein wenig helfen könnte.“

Antwerpen/Cleveland, Ohio

Martha Lippmann, die Witwe eines Wollhändlers in Stolzenau an der Weser in Niedersachsen, und ihre Mutter waren die letzten Familienmitglieder, die noch in Deutschland verblieben waren, als die Novemberpogrome Deutschlands Juden trafen: Ihre Tochter Gertrude war nach Belgien geflohen, ihr älterer Sohn, Erich, nach Amerika und ihr jüngerer Sohn, Hans Martin, nach England. Die Nachrichten von der Welle anti-jüdischer Gewalt steigerte die Dringlichkeit, mit der Emigranten versuchten, sich für ihre in Deutschland zurückgelassenen Verwandten einzusetzen. In einem Brief vom 16. November berichtet Max Stern, Gertrudes Ehemann, von einem geplanten Termin bei einem belgischen Rechtsanwalt in Martha Lippmanns Angelegenheit, mit dem Ziel, ein befristetes Visum für sie zu bekommen. Erich selbst hatte sich mit William Dodd in Verbindung gesetzt, dem ehemaligen US-Botschafter in Deutschland, dem er es zu verdanken hatte, dass er selbst nach Amerika gelangt war – bisher ohne Erfolg.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Martha Lipman, AR 6355

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

No reprieve

The wave of violence continues

A new wave of arrests, accompanied by violence, has netted hundreds of Jewish victims in the last 48 hours in Frankfurt-am-Main and other provincial centers.

Berlin

Whoever had hoped that peace and quiet would return after the pogroms on and through the night of November 9th to 10th (later known as „Kristallnacht“ or „Night of Broken Glass“) had been mistaken. In its November 17th dispatch, the Jewish Telegraphic Agency gives account of a new wave of arrests and violence. The initial round of violence had been orchestrated to look like a spontaneous outburst of popular rage after the assassination of an employee at the German Embassy in Paris, Ernst vom Rath, at the hand of a 17-year-old Jew. The pogrom was followed by a series of legislative measures eliminating Jews from commercial life in Germany and forcing them to “restore the streetscape” after the arson attacks on synagogues and the destruction of Jewish businesses. Apparently, the diplomat’s funeral in Düsseldorf was now serving as a subterfuge for renewed violence. The US consulate in Berlin was flooded by Jews seeking asylum for fear of additional assaults—in vain, as the article states.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

“Hundreds Seized in New Wave of Arrests, Violence; 3,000 Jews Seek U.S. Protection”

Original:

Box 1, folder 9

Source available in English

Wo ist Paul Weiner?

Verstörende Nachrichten von den Verwandten

„Paul, der Ärmste, ist schon eine Woche im Konzentrationslager, wo, weiß Berta auch nicht, die Wohnung ist bis auf das Schlafzimmer total demoliert [...].“

Basel/New York

Willi Jonas und seine Frau Hilde führten ein Schuhgeschäft im ruhigen Basel. Voller Sorge um die Verwandten in Deutschland, schickte Willi Jonas seinen Schweizer Chauffeur, um die Lage zu erkunden. In einem Brief vom 18. November 1938 berichtet das Ehepaar ausgewanderten Freunden in Amerika von den Erlebnissen ihrer Angehörigen während und nach der Pogromnacht: Louis Jonas, ein Viehhändler in Waldbreitbach bei Neuwied, ist ohne materielle Verluste davongekommen. Nachdem er aber vier Tage im Gefängnis verbringen musste und nur deshalb freigelassen wurde, weil er über fünfzig ist, will er nichts mehr, als Deutschland zu verlassen. Die Nachrichten aus Worms sind noch beunruhigender: Paul Weiner ist in ein Konzentrationslager gebracht worden, und niemand hat es für nötig befunden, seine Frau Berta (geb. Jonas) wissen zu lassen, in welches. Die Wohnung des Paares wurde fast vollständig zerstört, ein Teil des Besitzes gestohlen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Betty und Morris Moser, AR 25497

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Source available in English

Vom Regen in die Traufe

Schwindender Freundeskreis

Seit 14 Tagen sind die alten Goldmanns sang- und klanglos verschwunden. Wir wissen nicht, wo sie sind.

BERLIN

Schon einmal hatten die Intrators fliehen müssen: Die judenfeindliche Atmosphäre in ihrer polnischen Heimat hatte Rachel (Rosa) und Jakob Intrator 1905 veranlasst, ihren Wohnsitz nach Berlin zu verlegen. Der im selben Jahr geborene Sohn Alexander wurde ein erfolgreicher Konzertgeiger. Der fünf Jahre jüngere Gerhard studierte Jura, doch kaum waren die Nazis an die Macht gebracht worden, begannen sie, systematisch jüdische Juristen zu verdrängen. Angesichts der Aussichtslosigkeit einer juristischen Karriere in Deutschland emigrierte der 27jährige 1937 in die Vereinigten Staaten. Nun war er massiv bemüht, die Eltern nachzubringen. Am 19.11. berichtete ihm sein Vater Jakob vom Erhalt der zur Einwanderung nötigen Bürgschaft (“affidavit”). Allerdings sei in näherer Zukunft nicht mit Visen zu rechnen. Unterdessen wurde der Kreis der Verwandten und Freunde immer kleiner: Manche wurden von den Nazis zur Rückkehr nach Polen gezwungen. Andere verschwanden einfach.

QUELLE

Institution:

Mit freundlicher Genehmigung von Joanne Intrator

Sammlung:

Brief von Jakob Intrator an Gerhard Intrator

Neue Hoffnung auf Hilfe

Die Feldsteins in Wien hoffen auf Hilfe von den Feldsteins in Los Angeles

„Es hat mich sehr gefreut zu hören, dass Sie uns helfen werden, nach Amerika zu kommen. Ich hoffe Ihre Kinder sind im selben Alter wie ich, und ich werde gute Freunde haben.“

Wien/Los Angeles

19 Jahre lang hatte Fritz Feldstein zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten bei einer Wiener Bank gearbeitet. Doch 1938, nachdem Deutschland das benachbarte Österreich annektiert hatte, verlor er seine Stelle. Am 5. Juli ließ sich die Familie beim Amerikanischen Generalkonsulat registrieren, aber zur Einwanderung wurden Bürgschaften benötigt. Nach Monaten zutiefst beunruhigender politischer Veränderungen wagte Fritz Feldstein einen ungewöhnlichen Schritt: Am 16. Oktober wandte er sich an einen Julius Feldstein in Los Angeles, von dem er hoffte, er sei ein Verwandter, und appellierte an “die wohlbekannte amerikanische Hilfsbereitschaft”. Bald entwickelte sich ein Briefaustausch, an dem auch Fritz’ Ehefrau Martha und die gemeinsame Tochter Gerda beteiligt war. Die Elfjährige war nicht nur eine geschickte Klavierspielerin, sie hatte offenbar auch ein ausgesprochenes Sprachtalent: Am 20. November schreibt sie den Feldsteins zum ersten Mal – auf Englisch.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Fritz Feldstein Familie, AR 3250

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Für ewige Zeiten

Das Ende einer schönen Illusion

Dresden

Unter den 1400 während der Novemberpogrome zerstörten Synagogen war auch die nach ihrem Architekten benannte Semper-Synagoge in Dresden. Äußerlich neo-romanisch, war das Gebäude im Innern im maurischen Stil gehalten – einer Bauart, die von zahlreichen anderen Architekten jüdischer Sakralbauten imitiert wurde. Als das Gebäude von SA und SS niedergebrannt wurde, waren seit seiner feierlichen Eröffnung im Jahr 1840 98 Jahre vergangen. Rabbi Zacharias Frankel hatte es “für ewige Zeiten” dem Dienst Gottes geweiht und war der Anerkennung voll, “welche Achtung vor religiöser Freiheit dieses Volk beseelt”.

Berufsverbot in allen Künsten

Ungeeignet für die Förderung deutscher Kultur

„Nach dem Ergebnis meiner Überprüfung der in Ihren persönlichen Verhältnissen begründeten Tatsachen besitzen Sie nicht die erforderliche Eignung und Zuverlässigkeit, an der Förderung deutscher Kultur in Verantwortung gegenüber Volk und Reich mitzuwirken.“

Berlin/Dresden

Die Arbeiten des expressionistischen Malers und Grafikers Bruno Gimpel waren im Dritten Reich als „entartete Kunst“ eingestuft. Weder sein freiwilliger Dienst als Lazarettgehilfe im Ersten Weltkrieg noch seine „Mischehe“ mit einer „arischen“ Frau ersparten ihm die üblichen Repressalien: Am 22. November 1938 erhielt er einen Brief von der Reichskammer der bildenden Künste, die ihm erneut die Mitgliedschaft verweigerte und ihm Berufsverbot in allen Sparten seines Metiers erteilte. 1935 hatte diese Institution des Dritten Reiches schon einmal ein Aufnahmegesuch des Dresdner Künstlers abgeschlagen. Seit 1937 blieb ihm zum Broterwerb nichts anderes übrig, als jüdischen Kindern Zeichenunterricht zu erteilen.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Sammlung:

Schreiben des Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste mit der Ablehnung des Antrages auf Mitgliedschaft von Bruno Gimpel

Vertrauen auf Fremde setzen

Der Hilfsverein nimmt seine Verantwortung ernst

Ein Mann, der so freundlich ist, Bürgschaften auszustellen, würde diese Menschen sicher nicht ausnutzen..

New York/Boston

Konnte man Willy Nordwind vom Boston Committee for Refugees – einer Organisation, die sich nicht schwerpunktmäßig um unbegleitet einwandernde Kinder kümmerte – das Wohlergehen einer Sechzehnjährigen anvertrauen? Der Hilfsverein der Juden in Deutschland war nicht bereit, Risiken einzugehen: Anstatt Frieda Diamont einfach auf die Reise zu schicken, wandte sich die Organisation an das National Council of Jewish Women in New York, um sich zu vergewissern, ob auf Herrn Nordwinds Integrität Verlass sei. Merle Henoch vom Council gab den Fall an Jewish Family Welfare in Boston weiter, wo auch Nordwind seinen Standort hatte. Für sie stand es außer Zweifel: Ein so großzügiger Helfer wie Willy Nordwind musste ein vertrauenswürdiger Verbündeter sein.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 8

Source available in English

Kunst in Kisten

Die Erbin eines Kunstsammlers trifft Vorbereitungen zur Auswanderung

„Gegen die Ausreise der Spitzer, Hanna, Privatlehrerin habe ich keine Bedenken.“

Wien

Hätte die Geschichte Österreichs einen normalen Verlauf genommen, so wäre die Privatlehrerin Hanna Spitzer wohl in Wien geblieben und als geachtete Bürgerin dort alt geworden. Als Tochter des 1923 verstorbenen Juristen und Kunstförderers Dr. Alfred Spitzer war sie Miterbin einer bedeutenden Kunstsammlung, die Werke solcher Größen wie Kokoschka und Slevogt umfasste. Auch Egon Schiele war darin vertreten – u.a. mit einem Portrait Alfred Spitzers, der sein Rechtsanwalt und Förderer gewesen war und seinen Nachlass verwaltet hatte. Doch die Flut antisemitischer Maßnahmen, die durch den „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland losgetreten worden war, machte das Bleiben unerträglich und gefährlich: Diese Abschrift einer steuerlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung vom 24. November 1938 gibt Zeugnis von Hanna Spitzers Bemühungen, die Papiere zusammenzustellen, die für die Auswanderung benötigt wurden. Den Transport von 11 Kisten Umzugsgut, darunter Bilder, nach Melbourne und eine weitere Sendung an die Adresse ihrer Schwester Edith Naumann in Haifa hatte sie bereits im Januar in die Wege geleitet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Hanna Spitzer, AR 25537

Original:

Archivbox 2, Ordner 2

Die Grenzen der Gastfreundschaft

Asyl für jüdische Kinder

Die Kinder werden dort untergebracht, bis die Vorbereitungen zu ihrer Unterbringung in Privathäusern und für ihre Schulbildung abgeschlossen sind.

London

Die Nachrichten über die brutalen Gewaltakte, die während der Novemberpogrome an deutschen und österreichischen Juden verübt worden waren, sandten Schockwellen durch jüdische Gemeinden. Mitte November ersuchte eine Gruppe jüdischer Führungspersonen die Regierung, jüdischen Kindern vorübergehendes Asyl zu gewähren, die später in ihre Länder zurückgeschickt werden sollten. Am 25. November berichtete die Jewish Telegraphic Agency von der bevorstehenden Eröffnung eines Lagers für 600 Flüchtlingskinder aus Deutschland an der Ostküste Englands. Die britische Abteilung des World Movement for the Care of German Children sollte Pflegefamilien für 5000 Kinder rekrutieren. Der Plan hatte die Einwilligung der Regierung – vorausgesetzt, die Kinder seien unter 17 und ihr Unterhalt werde nicht der Öffentlichkeit zur Last fallen.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Original:

91.13

Die Zukunft von Menschheit und Kultur

Ein Aufruf zum Handeln in schlechten Zeiten

„Wenn jemals tapfere Herzen, klare Hirne und starke Fäuste nötig waren, dann heute, wo nicht weniger als die Zukunft von Menschheit und Kultur auf dem Spiele steht!“

New York

Niemand, der die November-Ausgabe des Aufbau las, konnte die fettgedruckte Botschaft auf der Titelseite verpassen: Unter der Überschrift „Die grosse Prüfung“ wird mit starken Worten das totale Versagen der „Staatsoberhäupter der sogenannten Demokratien“ angeprangert, die die Tschechoslowakei an Nazi-Deutschland geopfert haben. Jüdische Flüchtlinge sitzen in Böhmen im Niemandsland fest, in Deutschland verpassen die Nazis den Juden den „wirtschaftlichen Todesstreich,“ die Briten gefährden das zionistische Unternehmen und „wenig mehr als eine blasse Erinnerung“ ist von der Konferenz von Evian verblieben, die im Juli einberufen wurde, um das Problem der Neuansiedlung jüdischer Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland in Griff zu bekommen. Dies ist wahrlich „ein Zeitalter der vollkommenen Sündhaftigkeit.“ Werden die Bedrohten sich endlich aufraffen?

Unverhoffte Geste

Wiedererstanden aus dem Müll

Nürnberg

Dank einer gutgehenden Praxis im Nürnberger Stadtteil Steinbühl hatte es Dr. Adolf Dessauer zu einem gewissen Wohlstand gebracht: die großzügige Wohnung bot Raum für das Kinderzimmer der Söhne Heinz und Rolf, das Zimmer des Hausmädchens, die Praxis mit Wartezimmer, ein Wohn- und Esszimmer und nicht zuletzt ein Schlafzimmer mit Mobiliar aus Kirschholz. 1937 zwangen die Auswirkungen der antisemitischen Gesetzgebung der Nazis gegen Ärzte Dr. Dessauer, seine Praxis aufzugeben. Emigration war die einzige Lösung. Doch wie die schöne Schlafzimmerausstattung ins Ausland retten? Die Nazis machten diese Sorge hinfällig: in der Pogromnacht vom 9. auf den 10.11. wurde das Mobiliar kurz- und kleingeschlagen, ein Portrait des Nobelpreisträgers Paul Ehrlich aufgeschlitzt und ruiniert. Wenige Tage nach dem Schock der brutalen Zerstörung erlebten die Dessauers eine seltene Geste des Anstands: ein ihnen vollkommen unbekannter Mann brachte das Portrait in perfekt restauriertem Zustand zurück.

Hilfe unter Freunden

Ein alter Freund in Not

„Beim hiesigen amerikanischen Konsulat anzukommen ist praktisch unmöglich, da überhaupt keine Auskunft gegeben wird und man dazu nicht erst mehrere Stunden auf einem kalten Hof stehen und warten muss.“

BERLIN/BOSTON

Willy Nordwind, der stellvertretende Vorsitzende des Boston Committee for Refugees, bemühte sich unermüdlich, Juden vor dem Zugriff der Nazis zu retten, indem er ihnen half, in die Vereinigten Staaten einzuwandern. Selbst aus Deutschland eingewandert und mit den Vorschriften bestens vertraut, half er, Bürgschaften zu beschaffen und dafür zu sorgen, dass Neuankömmlinge mit so verschiedenartigen Fachgebieten wie Tabak- und Kleider-Einzelhandel, Ein- und Verkauf von Strickwaren und Fisch-Großhandel in Amerika Anstellung fanden. Die meisten dieser Menschen waren ihm vollkommen fremd, doch manche der Hilfsempfänger waren persönliche Bekannte: Am 28.11. beschwört ihn sein Freund Seppel, eine besondere Lösung für ihn zu finden, um die Angelegenheit zu beschleunigen. Seit der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November war die Anzahl der Visumsanträge scharf gestiegen, und die gewöhnliche Wartezeit auf die Bearbeitung von Bürgschaften war viel zu lang.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 24

Die einzige Hoffnung

Afrika als Zufluchtsort

„Die einzige Hoffnung meiner Eltern, hinauszukommen, bin ich.“

Rongai/Nairobi

1903, infolge des Pogroms von Kischinew, erklärte sich die britische Regierung bereit, im damaligen “Protektorat Ostafrika,” dem heutigen Kenya, die Ansiedlung europäischer Juden zu gestatten. Aufgrund massiver Opposition innerhalb der zionistischen Bewegung kam es nicht zu einer Realisierung des Plans, der unter dem irreführenden Namen „Uganda-Plan“ bekannt ist. 35 Jahre später fand sich Paul Egon Cahn, der zuletzt in Köln gelebt hatte, in Rongai (Kenya) wieder. Nach den Novemberpogromen begann der 20jährige Kfz-Mechaniker, zu versuchen, auch seine Eltern aus Deutschland herauszubringen. Während sich europäische Siedler und Angehörige der lokalen indisch-stämmigen Bevölkerung der Einwanderung jüdischer Flüchtlinge entgegenstellten, erwies sich das “Kenya Jewish Refugee Committee”, das seine Einwanderung ermöglicht hatte, als hilfreich. So wandte sich der junge Mann an den Sekretär des Komitees, Israel Somen, um Hilfe: er brauchte dringendst die £100, die das britische Kolonialamt für zwei Einreisegenehmigungen berechnete.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Paul Egon Cahn, AR 25431

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Quälende Ungewissheit

Die Sorge um Angehörige in Deutschland

„Das Gefühl der Ungewissheit über Euer persönliches Wohl ist so gross und die Hilflosigkeit bei allem Einsatz so trostlos, dass ich wirklich nicht weiss, was ich schreiben soll.“

Cleveland, Ohio/Stolzenau

Nicht wenige Juden in Deutschland reagierten mit Verzweiflung, existentieller Angst und sogar mit Selbstmord auf die Ereignisse der Novemberpogrome. Aber auch für diejenigen, die es geschafft hatten, sich ins Ausland abzusetzen, war die Situation hochgradig bedrückend: von weitem mussten sie mitansehen, wie ihre Gotteshäuser in Flammen aufgingen, wie Juden zu Tausenden festgenommen und in Konzentrationslager gesperrt wurden, wie jüdischer Besitz gestohlen oder zerstört wurde. Am schlimmsten war jedoch die Ungewissheit um das Befinden geliebter Angehöriger und die Qual, ihnen nicht oder zu langsam helfen zu können. Einer der vielen Emigranten, die diese Gefühle artikulierten, war Erich Lippmann: in diesem Brief aus Ohio an seine Mutter und Großmutter in Niedersachsen beschreibt er das Gefühl der Hilflosigkeit, erwähnt aber auch Bemühungen, von offizieller Seite Unterstützung zu bekommen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Martha Lipman, AR 6355

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

November 31 (necessary dummy post, publish and don’t delete me; same for German version)

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