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Hotel Métropole

Ein Luxushotel wird zum Gestapo-Quartier

Wien

Das Hotel Métropole in Wien, am Morzinplatz im zentralen 1. Bezirk gelegen, war für die Weltausstellung 1873 errichtet worden. Das luxuriöse Gebäude, entworfen von den Architekten Carl Schumann und Ludwig Tischler, war mit einem prunkvollen Speisesaal und einem prächtigen Innenhof ausgestattet. Am 1. April 1938 nahm die Gestapo in dem Hotel, das von seinen jüdischen Besitzern konfisziert worden war, ihre Tätigkeit auf und machte es zu ihrem Hauptquartier. Mit 900 Angestellten war es die größte Gestapo-Stelle im Reich. Der erste Befehl, der von der neuen Zentrale ausging, war der Abtransport einer ersten Gruppe österreichischer Gefangener ins Konzentrationslager Dachau. Dieses Foto zeigt eine Tischdecke aus besseren Zeiten im Hotel Métropole.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Sammlung:

Tischtuch aus Hotel Metropol

Original:

Inv. Nr. 20526

Solidarität, Selbstorganisation, Spendensammeln

Jüdische Wohlfahrtsorganisationen fangen viel auf

Berlin

1938 war die Fähigkeit der Juden, in Deutschland ihren Lebensunterhalt zu verdienen, erheblich eingeschränkt: Eine Reihe von Gesetzen zielte darauf ab, sie zu demütigen, zu isolieren und in die Armut abzudrängen. Während nicht alle Juden in gleichem Maß von diesen Veränderungen betroffen waren, nahm die Anzahl der Juden, die auf die Dienste von Wohlfahrtsorganisationen, wie z.B. die jüdische Winterhilfe, angewiesen waren, ständig zu. Das Ausmaß der Solidarität und die Unterstützung für die Winterhilfe waren bemerkenswert. Ein großer Teil des Geldes kam aus Kleinspenden, und der Kulturbund gestaltete kulturelle Veranstaltungen, um die Organisation zu unterstützen. Freiwillige aus Frauen- und Jugendorganisationen halfen beim Spendensammeln.

Der Existenzgrundlage beraubt

Rechtsanwälte und Marktverkäufer erhalten Berufsverbot

Wien

Laut diesem Bericht der Jewish Telegraphic Agency stellte der 3. April 1938 eine weitere Wegmarke im Prozess der Beschränkung der Berufsfreiheit der österreichischen Juden dar: Von diesem Tag an konnte das Justizministerium nach Belieben jüdischen Rechtsanwälten die Lizenz aberkennen, ausgenommen diejenigen, die ihre Zulassung vor 1914 erhalten hatten oder Frontkämpfer oder unmittelbare Verwandte im Weltkrieg gefallener Soldaten waren. Es wurde geschätzt, dass 800 bis 900 Rechtsanwälte von der neuen Bestimmung betroffen waren. Eine weitere Berufsgruppe, die unter der Nazipolitik zu leiden hatte, war die der Marktverkäufer: Juden, die bewegliche oder feste Marktstände betrieben, war es nicht länger gestattet, auf diese Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auch waren in der kurzen Zeit seit der Machtübernahme durch die Nazis bereits „Arisierungen“ von Fabriken in jüdischem Besitz erfolgt.

Vorreiterrolle

USA ergreift Initiative für Flüchtlinge

Washington, D.C.

Am 4. April 1938 traf Arthur Sweetser, Mitglied des Sekretariats des Völkerbunds, mit US-Präsident Franklin D. Roosevelt zusammen. Bei dem Treffen diskutierten die beiden Männer die Situation deutscher und österreichischer Juden, die dringend Wege zur Auswanderung suchten. Roosevelt erwähnte die Idee, eine internationale Konferenz abzuhalten. Sein Gedankengang war einfach: Nur unter der entschlossenen Führung der USA konnte das Problem gelöst und andere Länder überredet werden, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Es bleibt umstritten, ob die Idee einer gemeinsamen Diskussion der Situation der Juden unter dem Naziregime von Roosevelt selbst ausging oder von hochrangigen Beamten des US-Außenministeriums.

Die Grenzen des Einzelnen

Fritz Machlup signalisiert Bedenken und Hilfsbereitschaft

„Gestern, an einem einzigen Tage, erhielt ich sage und schreibe 11 Ersuchen um Einwanderungsaffidavits, darunter die Ersuchen von gemeinsamen Freunden“.

Buffalo, New York/Wien

Dank eines Rockefeller-Stipendiums, das 1933 an ihn vergeben worden war, hatte der herausragende Wiener Volkswirtschaftler Fritz Machlup Österreich Jahre vor dem „Anschluss“ verlassen. 1935 erhielt er eine Professur für Volkswirtschaftslehre an der Universität Buffalo. Es überrascht nicht, dass Freunde und Kollegen ihre Hoffnungen darauf setzten, ihn als Bürgen zu gewinnen, als die Nazis in Österreich Fuß zu fassen begannen. In diesem Brief vom 5. April an seinen Freund Alfred Schütz äußert er die Sorge, seine Hilfsversprechen, so vielen gegeben, würden an Glaubwürdigkeit verlieren. Er fügt aber dennoch ein Schreiben bei, in dem er Schütz anbietet, ihm bei der Niederlassung in den Vereinigten Staaten behilflich zu sein.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Alfred Schutz, AR 25500

Original:

Archivbox 1, Ordner 17

Ausdruckstanz

Jüdischer Kulturbund präsentiert Elsa Caro

Hamburg

Die Veranstaltung des Jüdischen Kulturbunds am 6. April war dem Tanz gewidmet: Elsa Caro, auch unter ihrem Künstlernamen Juana Manorska bekannt, benutzte anspruchsvolle Werke, die ursprünglich nicht als Tanzmusik gedacht waren, als Inspiration für ihre Darbietungen. Bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts war manchen das festgelegte, formelhafte Bewegungsrepertoire des klassischen Balletts einschränkend und überholt erschienen. Deutsche Tänzerinnen, unter ihnen die „Halbjüdin“ Gret Palucca, waren an der Spitze derer, die mit neuen Formen experimentierten, eine Bewegung, die den „Ausdruckstanz“ hervorbrachte, der auch als „expressionistischer Tanz“ oder „moderner Tanz“ bezeichnet wird. Auch Elsa Caro gehörte ihr an.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Jüdische Gemeinde Hamburg, AR 193

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Kontaktabbruch

Ein Berliner verlässt die jüdische Gemeinschaft

Berlin

Hoffte Hans Petzold, ein 36jähriger gebürtiger Berliner, durch seinen Austritt zunächst aus dem Judentum und dann aus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin sein Los zu verbessern? Unter einem Regime, das von dem Gedanken rassischer Reinheit besessen war, war es kaum zu erwarten, dass Schritte dieser Art einen Unterschied machen würden. Laut der „Austrittskartei“ der Jüdischen Gemeinde zu Berlin trat Petzold innerhalb eines Monats offiziell sowohl aus der Berliner Gemeinde als auch aus dem Judentum aus.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Sammlung:

Karteikarte aus der Austrittskartei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin zum Austritt von Hans Petzold aus dem Judentum

Original:

CJA, 2 A 1

Meinungsumschwung

Pfarrer Breckle fällt den Juden in den Rücken

"Niemand hat die Juden in die europäischen Länder eingeladen. Sie kamen als ungeladene Gäste und haben sich in allen öffentlichen Berufen so sehr in den Vordergrund gedrängt, und nicht unbedingt durch hervorrangende Leistungen, dass man zumindest sagen kann, dass sich ein großes Missverhältnis entwickelt hat."

WIEN

In der neuen Realität Österreichs konnten sich die Meinungen, auch die von Beamten, mitunter recht schnell ändern. Dies blieb internationalen Beobachtern nicht verborgen. In einer Pressenotiz vom 8. April meldet die Jewish Telegraphic Agency, ein katholischer Geistlicher, Pfarrer Breckle von der Dreifaltigkeitskirche in Wien, habe Juden in einem Artikel in „Katholische Aktion“ als „ungeladene Gäste“ in Europa bezeichnet und sie beschuldigt, sich „in den Vordergrund zu drängen“. Hitlers Vorgehensweise habe er als „frei und menschlich“ sowohl den „Ariern“ als auch den Juden gegenüber bezeichnet. Breckle habe seine Ansichten erst in jüngster Zeit geändert und zuvor als der jüdischen Gemeinde gegenüber freundlich gegolten.

Pessach-Ball mit „Kölner Jecken“

Die Zionistische Arbeiterbruderschaft sorgt für temporäre Heiterkeit unter deutsch-jüdischen Einwanderern

NEW YORK

Meist war die Jewish National Workers Alliance, unter welchem Namen die Zionistische Arbeiterbruderschaft bekannt war, mit ernsthaften Angelegenheiten beschäftigt: Unter anderem war sie bestrebt, die Arbeiterklasse zu stärken, und in wirtschaftlichen Notlagen, im Fall von Krankheit oder Tod ihrer Mitglieder, Hilfe zu leisten. 1911 hatte sie das erste Versicherungssystem für jüdische Arbeiter eingerichtet. Am 9. April 1938 wich sie von ihrer Kernaufgabe ab und hielt in der deutsch-jüdischen Hochburg Washington Heights in New York einen Pessach-Ball ab. Unter anderem wirkten an dem Programm „Kölner Humoristen“ mit – ein Gütezeichen unter deutschen Einwanderern, die mit Kölner Karnevalsnarretei vertraut waren, einer Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Veranstaltungsort war der Ballsaal der Paramount Mansion, in der verschiedene Institutionen zu Hause waren, die die Interessen deutsch-jüdischer Einwanderer förderten.

Pseudo-Wahlen

Österreicher stimmen ohne Juden nachträglich über den Anschluss ab

„Wer das Stimmrecht ausübt, trotzdem er vom Stimmrecht ausgeschlossen ist oder ihm bekannt ist, dass er von mindestens drei volljüdischen Großeltern abstammt, oder aber als Mischling (mindestens zwei jüdische Großeltern) mit einer jüdischen Person verheiratet ist, hat diesen Wahlausweis sofort an das Gemeindeamt zurückzusenden und von der Wahl fernzubleiben. Andernfalls setzt er sich schwerer Bestrafung aus“.

WIEN

Der Einmarsch deutscher Truppen in Österreich am 12. März war der von Kanzler Schuschnigg für den 13. März geplanten Volksabstimmung über die Vereinigung mit Deutschland zuvorgekommen. Die Nazis, nun im Besitz der Macht, verschoben die Volksabstimmung auf den 10. April in Verbindung mit den ersten gesamtdeutschen Reichstagswahlen. Katholische Bischöfe unter der Führung Erzbischof Theodor Innitzers hatten eine „feierliche Erklärung“ abgegeben, in der sie katholische Wähler aufriefen, für den „Anschluss“ zu stimmen. Laut offiziellen Angaben bestätigten nahezu 100% der Wähler, was bereits eine vollendete Tatsache war. Das hier gezeigte Dokument ist ein Wählerausweis zur ausschließlichen Benutzung des auf der Vorderseite angegebenen Empfängers. Es schließt Juden explizit von der Teilnahme aus.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Sammlung:

Wahlausweis zur Volksabstimmung am 10. April 1938 (Nr. 225)

Original:

Inv. Nr. 26028/9

Eine Retterin feiert Geburtstag

Rose Luria Halprin macht sich für deutsch-jüdische Jugendliche stark

Jerusalem/Berlin

Als führende Funktionärin in verschiedenen zionistischen Organisationen, insbesondere in der nordamerikanischen Frauenorganisation „Hadassah“ (Hadassah Women’s Zionist Organization of North America) war Rose Luria Halprin 1934 nach Palästina gezogen, wo sie als Kontaktperson zwischen der lokalen Hadassah-Zweigstelle und dem nationalen Büro in den Vereinigten Staaten fungierte. Nachdem sie sich mit Henrietta Szold angefreundet hatte, die die Jugend-Alija in Palästina leitete, begann auch Rose Halprin, sich für die Rettung deutsch-jüdischer Jugendlicher durch deren Verbringung nach Palästina zu engagieren. Gegründet wurde die Jugend-Alija durch die vorausschauende Recha Freier, die Frau eines in Berlin ansässigen Rabbiners. Das war derselbe Tag, an dem die Nazis an die Regierung gebracht wurden, der 30. Januar 1933. In den Jahren 1935 bis 1938 besuchte Rose Halprin wiederholt Berlin. Der 11. April 1938 war ihr 42. Geburtstag.

QUELLE

Institution:

American Jewish Historical Society

Sammlung:

Rose Halprin in 1934. Haddassah Archiv beim American Jewish Historical Society.

Das Geschäft mit der Flucht

Deutsche Speditionsfirmen profitieren von der Vertreibung der Juden

„Im übrigen ist der Verlust von Ihnen so spät gemeldet worden, dass die Frist für die Anmeldung verstrichen ist. Die Versicherungs-Gesellschaft wird Ersatz irgend eines Verlustes nach so langer Zeit glatt ablehnen“.

Berlin/London

Deutsche Speditionsfirmen profitierten auf vielfache Weise von der düsteren Situation der Juden: Kein Weg führte an ihnen vorbei, um den Transport des Besitzes der Emigranten an den neuen Standort zu bewerkstelligen. Bereits Ende 1937 hatten 135.000 Juden Deutschland verlassen. Die Ereignisse des Jahres 1938 führten zu einem erneuten Anstieg. Die Spedition Gustav Knauer, deren Berliner Niederlassung das Umzugsgut Lotte Doerners (geb. Simon) abfertigte, hatten eine weitere lukrative Aufgabe gefunden: den Transport vieler der 20.000 Objekte aus deutschen Kunstmuseen, die durch das Regime als „entartet“ eingestuft wurden, zu der berüchtigten Ausstellung „Entartete Kunst“ nach München und von dort zur Einlagerung. Frau Doerner und ihrem Mann war es gelungen, Deutschland zu verlassen und sich in England niederzulassen. Beim Auspacken ihrer Sachen stellten sie fest, dass ihre Wäsche fehlte. Im hier gezeigten Brief teilt die Firma Frau Doerner höflich mit, auf ihrer Seite sei alles korrekt abgewickelt worden.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Sammlung:

Brief von Gustav Knauer an Lotte Dorner, Sammlung Dorner, Schenkung von Steven Dorner.

Ein besonderes Geburtstagsgeschenk

Kinder des Ahawah-Heims danken Heinrich Stahl für seinen Einsatz

Berlin

Heinrich Stahl, seit 1934 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, war stark engagiert in der Arbeit der verschiedenen jüdischen Hilfsorganisationen, für die wachsende Nachfrage bestand, je mehr sich der Nationalsozialismus stark machte. Am 13. April 1938, seinem 70. Geburtstag, wurde ihm im Namen des Kinderheims „Ahawah“ ein Geschenk überreicht: ein Fotoalbum, das die breite Palette der Aktivitäten zeigte, denen die Schützlinge dieser außergewöhnlichen Einrichtung nachgingen (s. 17. März). Es schloss mehrere Fotos aus der neuen Niederlassung ein, die 1934 in Palästina eröffnet worden war. Die aufrichtige Wärme und Dankbarkeit, die durch die gereimte Widmung hindurchscheinen, zeigen, wie sehr sich Stahl für die Interessen der „Ahawah“ einsetzte.

Entrechtung in Österreich, Freilassung in Dachau

Die Nazis in Österreich erlassen eine Flut an neuen Bestimmungen

Wien

Wenig mehr als einen Monat nach der Machtübernahme der Nazis in Österreich lässt eine Kaskade neuer Bestimmungen und Schritte, die von den neuen Machthabern eingeleitet worden sind, wenig Raum für Optimismus: Die Jewish Telegraphic Agency berichtet für den 14. April aus Wien, es sei geplant, Juden innerhalb von 50 Kilometern aus den Grenzgebieten zur Tschechoslowakei zu vertreiben, österreichische Geschäfte würden auf eigene Kosten der Obhut von Nazi-Kommissaren anvertraut (laut der JTA ist diese Bestimmung im Fall hunderter von Geschäften in jüdischem Besitz bereits in Kraft getreten) und es sei ein Gesetz zur Sicherstellung rassischer Reinheit eingeführt worden. Der eine positive Punkt in dieser umfangreichen Meldung ist die Aussicht darauf, dass alle zur Zeit in Dachau internierten Juden nicht nur freigelassen, sondern auch Einreisegenehmigungen nach Palästina erhalten sollen.

50.000 Mazzen

Jüdische Winterhilfe ermöglicht verarmten Juden die Speisevorschriften zur Pessachwoche einzuhalten

Berlin

Die besonderen Speisevorschriften für die Pessachwoche bedeuteten eine zusätzliche finanzielle Belastung für die deutschen Juden, von denen viele Mühe hatten, über die Runden zu kommen. Die Jüdische Winterhilfe verteilte 50.000 Mazzen an bedürftige Juden und ermöglichte etwa 1000 Personen die Teilnahme an den beiden Sederabenden. Die Spender der Pessachsammlung der Winterhilfe erhielten ein Exemplar von Rabbi Selig Bambergers Übersetzung der Haggadah, deren Inneneinband mit einem Etikett versehen war, auf dem für die Spende gedankt wurde. Dieses Foto von Feiertagszubehör stammt aus einem Album Heinrich Stahls, des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, der die Jüdische Winterhilfe gemeinsam mit Rabbiner Leo Baeck 1935 bei einer Veranstaltung in Berlin ins Leben gerufen hatte.

Knechtschaft und das Fest der Befreiung

Jugendliche feiern Pessach

Berlin

1938 fiel der erste Tag des Pessach-Festes auf den 16. April. Wie jedes Jahr versammelten sich die Bewohner des Jüdischen Jugendwohn- und Lehrlingsheims in Berlin um einen festlich gedeckten Tisch zum zweiten Seder. Unter der engagierten Leitung Paul und Friedel Josephs versorgte das Heim seine Schützlinge mit Gelegenheiten, die weit über das Praktische, wie Unterbringung und Berufsausbildung, hinausgingen: Sie bemühten sich, ihnen kulturelle und intellektuelle Impulse zu verschaffen und ihre Horizonte zu erweitern. Die Jungen und jungen Männer im Alter von 14 bis 21 waren als „schwer erziehbar“ aus ihren Elternhäusern entfernt worden. Laut Friedel Joseph spielte sich das Leben im Heim zu diesem Zeitpunkt noch „relativ unbehelligt“ ab, aber die politische Situation kann seinen Bewohnern nicht entgangen sein: Die Pessach-Botschaft der Befreiung aus der Knechtschaft unter einem tyrannischen Herrscher muss in diesem Jahr starken Nachhall gefunden haben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Heinrich Stahl, AR 7171

Original:

ALB 69

Glück im Unglück

Eine Geschäftsreise hält Alfred Schütz im sicheren Ausland

„Es ist auch nach allen Erfahrungen nur zu berechtigt, wenn ihre Frau in der Korrespondenz höchst vorsichtig ist und Sie bittet, es ebenso zu sein. Der Verdacht der Verbreitung von ‘Greuelnachrichten’ genügt, um einen in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen“.

London

Alfred Schütz, ein Weltkriegsveteran, hatte an der Universität Wien Jura, Soziologie und Philosophie studiert. Seit Ende der zwanziger Jahre war er bei dem Internationalen Bankhaus Reiter & Co angestellt. Während des deutschen Einmarsches in Österreich war er zufällig auf Geschäftsreise in Frankreich. Er entschloss sich, im Ausland zu bleiben. Ein Freund, der von London aus Wien besucht hatte, schreibt über sein Gespräch mit Schütz‘ Ehefrau Ilse. In seinem Brief rät er Schütz davon ab, nach Österreich zurückzukehren, da das neue Regime dem internationalen Bankwesen gegenüber misstrauisch sei. Angesichts der drohenden Gefahr erschien es Schütz als bessere Option, sich vorübergehend von der Familie zu trennen, als in seine Heimatstadt zurückzukehren.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Alfred Schutz, AR 25500

Original:

Archivbox 1, Ordner 18

54 Jahre

Der Graphiker Michel Fingesten feiert seinen Geburtstag im Exil

Triest

Nach Studien an der Wiener Kunstakademie war der Graphiker Michel Fingesten auf Reisen gegangen und hatte sich schließlich in Deutschland niedergelassen. Weder die jüdische Abstammung des österreichischen Staatsangehörigen noch seine Vorliebe für das Erotische machten ihn bei den Nazis beliebt. Die immer unerträglichere Rassenpolitik des Regimes veranlasste ihn, nach einem Familienbesuch in Triest 1935 in Italien zu bleiben. Fingesten ist in erster Linie als Illustrator und als produktiver, fantasievoller Gestalter von Exlibris bekannt. Der 18. April 1938 war sein 54. Geburtstag.

Ein Brief von zu Hause

Mit dem Anschluss Österreichs geht eine befriedete Welt verloren

Wien/Tannwald

Für Arthur Wolf, einen glühenden österreichischen Patrioten und Veteranen des 1. Weltkriegs, bedeutete die Machtübernahme der Nazis in Österreich den Zusammenbruch seiner Welt, den Verlust von Heimat und Gleichheit und den Beginn einer Existenz als „Wandernder Jude“. Wolf war Direktor einer Textilfabrik in Tannwald (damals Tschechoslowakei). Seine in Russland geborene Frau Maria war mit dem Sohn des Paares, Erich (geb. 1923), in Österreich zurückgeblieben. Angesichts der jüngsten Ereignisse ist der Ton von Marias Brief vom 19. April bemerkenswert spielerisch: Sie schwärmt von den Gedichten des fünfzehnjährigen Erich, spricht mit warmen Worten über ihre Mutter-Sohn-Beziehung und drückt ihre Sehnsucht nach Arthur aus, während sie eine offensichtliche Bezugnahme auf das Tagesgeschehen vermeidet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Arthur Wolf, AR 25270

Original:

Archivbox 2, Ordner 5

Vorerst verschont

Ehemailige Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs genießen zeitweiligen Schutz

Wien

Adolph Markus, seine Frau und zwei Kinder gehörten zu den relativ wenigen von Österreichs etwa 200.000 Juden, die nicht in Wien lebten. Am 20. April 1938 fuhr Markus in die Hauptstadt, um seine Familie zu besuchen, die schwierige Situation zu besprechen und Auswanderungsmöglichkeiten zu diskutieren. Während sein Bruder Rudi jeden Tag damit rechnen musste, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, meinte er, Adolph habe als Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs nichts zu befürchten. Tatsächlich waren ehemalige Frontkämpfer und Juden, die ihren Vater oder einen Sohn im Kampf für Deutschland oder seine Verbündeten verloren hatten, von gewissen anti-jüdischen Maßnahmen ausgenommen.

Ein jüdisches Filminstitut?

Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda tut seinen Job

Berlin

Laut einem Bericht der Jewish Telegraphic Agency genehmigte das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda am 21. April die Einrichtung eines Jüdischen Filminstituts. Der Name war irreführend: Es war nicht zur kulturellen Bereicherung der jüdischen Öffentlichkeit gedacht. Der Hauptzweck des Instituts sollte die Produktion von Filmen sein, die das Leben in Palästina zeigten und deutsche Juden zur Emigration drängten. Mit anderen Worten, der Plan war ein weiterer Teil der Strategie der Nazis, Deutschlands Juden „aus dem Weg zu räumen“. Zur selben Zeit erklärte „Der Stürmer“, eines der schärfsten antisemitischen Blätter in Nazi-Deutschland, Juden müsse der Zutritt zu Kinos und Theatern verwehrt werden.

Fachkräfte wandern aus

Das Ärztepaar Brinitzer geht nach Indien

Bangalore

Jenny Brinitzer wurde 1884 in Riga, Lettland geboren. Nach Studien in Bern, Berlin und Kiel gelang es ihr, sich als erste Ärztin in Hamburg Altona niederzulassen. Dort praktizierte die Mutter dreier Kinder 20 Jahre lang in einer Gemeinschaftspraxis mit ihrem Mann, dem Dermatologen Dr. Eugen Brinitzer. 1933 machten Juden etwa ein Viertel der Hamburger Ärzteschaft aus. Jüdische Kassenärzte und Ärzte im öffentlichen Dienst wurden gleich in den ersten beiden Jahren des Naziregimes entlassen. Ab 1935 war eine Liste von etwas 150 jüdischen Ärzten in Hamburg im Umlauf, die im Zusammenhang mit den Bemühungen der Nationalsozialisten entstanden war, „arische“ Patienten von jüdischen Ärzten zu trennen. Im April 1938 verließen Dr. Jenny Brinitzer und ihr Mann Deutschland und wanderten nach Bangalore, Indien aus.

Der Prater

Schauplatz widerlicher Demütigung und Folter

Wien

Diese Werbebroschüre zeigt den Prater, einen großen Park und Rummelplatz im zentralen 2. Bezirk Wiens, in den dreißiger Jahren. Hier wurden am 23. April hunderte Wiener Juden zusammengetrieben und vor johlenden Zuschauern geschlagen und misshandelt. Manche wurden gezwungen, Gras zu essen. Juden beiderlei Geschlechts, ohne Berücksichtung ihres Alters und Gesundheitszustands, mussten im Kreis herumlaufen, bis sie zusammenbrachen. Viele der so Gedemütigten erlitten Herzanfälle, einige starben.

Grüßen ist gefährlich

Eine jüdische Ärztin beschreibt den Alltagswahnsinn

„Vater sagt, er will die Firma nicht verkaufen. Der Name, er soll mit uns untergehen [...]“.

Laupheim

Das Tagebuch Dr. Hertha Nathorffs (geb. Einstein) vermittelt ein lebendiges und manchmal alptraumhaftes Bild von den Erfahrungen der jüdischen Ärztin in Nazi-Deutschland. Am 24. April beschreibt sie einen Besuch bei ihren Eltern in ihrem Geburtsort Laupheim in Schwaben: Viele jüdische Geschäfte waren verkauft worden, ihre Besitzer emigriert. Die Bemühungen der Nazis, die Juden zu verleumden und zu isolieren, waren so erfolgreich gewesen, dass die Vorübergehenden Angst hatten, sie zu grüßen. Ihr Vater hatte ihr mitgeteilt, er werde die Firma, seit vier Generationen im Familienbesitz, nicht verkaufen, sondern lieber mit ihrem Namen untergehen. Das Ausmaß der Isolation, der deutsche Juden ausgesetzt waren, geht auch aus einer Episode hervor, die im selben Eintrag erwähnt wird: Dr. Nathorff ist überrascht, dass ihr ehemaliger Professor tatsächlich den Mut hatte, ihr durch eine Patientin Grüße ausrichten zu lassen.

Rasse, nicht Religion

Trotz Taufschein als Jude entlassen

„Wenn Sie kommen, werden wir unser Bestes tun, um Ihnen zu helfen. Sie können dem Kanadischen Hochkommissar versichern, dass wir die Verantwortung für Sie übernehmen, so dass sie dem Staat nicht zur Last fallen werden“.

Wien/Winnipeg

In düsteren Zeiten wie diesen bedeutete ein Brief, der eine Arbeitsmöglichkeit in Kanada versprach, einen immens wichtigen Hoffnungsschimmer. Obwohl er im Besitz dessen war, was Heinrich Heine bekanntlich als „Entréebillet zur europäischen Kultur“ bezeichnete – einen Taufschein – wurde Anton Felix Perl 1938 aus „rassischen“ Gründen von seiner Stelle als Assistenzarzt im Wiener Allgemeinen Krankenhaus entlassen. Zu seinem Glück genoss er die Unterstützung eines so prominenten Fürsprechers wie dem Erzbischof von Winipeg, der ihm in diesem Brief vom 25. April 1938 wertvolle Ratschläge bezüglich der Einwanderung nach Kanada erteilte und ihm praktische Hilfe versprach.

Neubeginn mit 40

Moses Wainstein überwindet die Hürden internationaler Bürokratie

Marseille

Marseille war für die Exilanten einer der wichtigsten Abfahrthäfen nach Übersee. Hier beschaffte sich Moses Wainstein die restlichen Papiere für seine Emigration nach Uruguay. Diese Bescheinigung über eine Reiseimpfung war zur Vorlage bei den dortigen Behörden in Spanisch abgefasst. Seine Habseligkeiten hatte sich der Berliner bereits durch eine deutsche Spedition nach Marseille schicken lassen. Wainstein war zu diesem Zeitpunkt 40 Jahre alt.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Impfbescheinigung, ausgestellt auf dem Dampfer „Campana“ für Moses Wainstein.

Jahreschronik 1938

Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden

Ein von National-Sozialisten beschädigtes Geschäft in Wien. United States Holocaust Memorial Museum.

Hermann Göring erlässt die „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“. Dernach sind alle Juden im Deutschen Reich unter Androhung von Geld-, Haft- und Zuchthausstrafen angehalten, ihr Vermögen im In- und Ausland zu melden, wenn es den Betrag von 5.000 Reichsmark übersteigt. Alf Krüger, Ministerialrat im Reichswirtschaftsministerium, nennt die Regelung den „Wegbereiter zu der völligen und endgültigen Entjudung der deutschen Wirtschaft“. Drei Tage später wird in einem Arbeitstreffen bei Göring geplant, das jüdische Vermögen so umzuwandeln, dass es “keinen wirtschaftlichen Einfluss mehr gestatte[t]“. Göring erläutert später, dass in der Besprechung im April bereits der Beschluss gefasst wurde, „die deutsche Wirtschaft zu arisieren, den Juden aus der Wirtschaft heraus und in das Schuldbuch hineinzubringen und auf die Rente zu setzen. […] Die Entschädigung wird im Schuldbuch vermerkt und zu einem bestimmten Prozentsatz verzinst. Davon hat er zu leben.“ Nach den Novemberprogromen nutzten die Nationalsozialisten die erworbenen Daten als Grundlage, um den Juden ein Viertel ihres Vermögens abzunehmen. Als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Entschädigungsverfahren begannen, dienten die Daten dazu, die ursprünglichen Eigentümerschaften festzustellen.

 

Zur Jahreschronik 1938

Möbel für Auswanderer

Werbeanzeigen spiegeln die Bedürfnisse der Zeit

Karlsruhe

Drei gut sichtbar plazierte Anzeigen auf der Titelseite des „Jüdischen Gemeindeblatts für Baden“ stellen klar heraus, was die Gemüter deutscher Juden im April 1938 bewegt: Das Thema „Auswanderung“ ist allgegenwärtig. Drei Firmen in Karlsruhe bieten Waren und Dienste in diesem Zusammenhang, wie Schiffskarten nach Südamerika, Afrika und Asien, Möbel für Auswanderer und Hausverkäufe. In der Ausgabe vom 27. April kommt das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zur Sprache: Das Schrumpfen der Gemeinden durch den Wegzug der Mitglieder, Englischkurse für künftige Auswanderer, der Weggang geschätzter Führungspersönlichkeiten, praktischer Rat, wie man während des Emigrationsprozesses die Unterstützung jüdischer Hilfsorganisationen erlangen könne, und mehr. Parallel dazu scheinen die Dinge in ihren gewohnten Bahnen zu verlaufen: Lehrhaus-Aktivitäten, Schülerkonzerte und Kulturbund-Veranstaltungen bilden ein Gegengewicht zur Anormalität der Situation.

Liesl

Politische Gegner im Polizeigefängnis

„In Deiner Angelegenheit mache ich nach wie vor alle notwendigen Wege. Die Herren zeigen sich äußerst entgegenkommend, können aber infolge Überbürdung nicht alles so rasch erledigen“.

WIEN

Schon während der Jahre des autoritären Regimes, das 1934 in Österreich eingeführt worden war („Austrofaschismus“), war das Polizeigefängnis Rossauer Lände in Wien (von den Einheimischen „Liesl“ genannt) als Haftanstalt nicht nur für Kriminelle, sondern auch für politische Gegner benutzt worden. Nach der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland am 12. März 1938 wurden von hier aus die ersten 150 Österreicher ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Edmund Wachs wurde im April 1938 in der „Liesl“ in „Schutzhaft“ genommen, ein bequemes Mittel in den Händen der Nazibehörden, um Juden und politische Gegner loszuwerden, da sie willkürlich verhängt werden konnte und den Gefangenen kaum oder gar keinen Rückgriff auf Rechtsbeistand ließ. Auf dieser Postkarte versichert ihm sein Bruder, Rechtanwalt Dr. Karl Wachs, er täte alles Notwendige, um seinen Fall zu unterstützen und bittet ihn um Geduld.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Edmund und Berta Wachs, AR 25093.

Original:

Archivbox 1, Ordner 6

Welche Höhen man erreichen könnte

Der Wunsch nach Selbstbestimmung angesichts jüdischer Entrechtung

„Empört zeigt sich wohl die ,zivilisierte‘ Welt über die Barbarei der Deutschen, die wahrhaft wenig sanft mit uns umgehen. Was aber tun sie für hunderte von burgenländischen Juden, die zum Beispiel auf einem Schlepper mitten auf der Donau hausen oder auf einem Fleckchen Land zwischen Deutschland und Jugoslawien?”

Wien

Eineinhalb Monate nach dem „Anschluss“ erscheint Paul Steiner noch immer fassungslos: Alles kommt ihm so unglaublich vor, dass „selbst die eigenen Worte erstaunlich und zweifelhaft werden“. Er fragt sich, was die Außenwelt angesichts der deutschen Barbarei für die Juden täte, besonders für die Juden des Burgenlands, die gleich nach dem „Anschluss“ brutal vertrieben worden und in vollkommen unzulänglichen Unterkünften gestrandet waren, während sich ihre früheren Nachbarn ihren Besitz aneigneten. Er schreibt eine Vision jüdischer „Rache“ nieder, die gefordert werden soll, indem die Welt dadurch beschämt wird, dass man ihr zeigt, welche Höhen Juden erreichen können, wenn man ihnen die Möglichkeit zur Selbstbestimmung gibt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Original:

Sammlung Paul Steiner, AR 25208

Schwarze Dreiecke

Unerwünschte ins KZ Buchenwald

Buchenwald

Der 30. April 1938 war der zehnte und letzte Tag der „Aktion Arbeitsscheu Reich“, einer Strafaktion, die auf Menschen abzielte, die für „asozial“ oder „arbeitsscheu“ erachtet wurden. Die Definition war ausreichend vage und breit gesteckt, es zu ermöglichen, sich einer großen Bandbreite von „Unerwünschten“ zu entledigen. Zwischen 1500 und 2000 so eingestufte Männer wurden in einer ersten Verhaftungswelle ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht, unter ihnen auch Juden. Sie wurden durch schwarze Dreiecke an der Häftlingskleidung identifiziert.

April 31 (necessary dummy post, publish and don’t delete me; same for German version)

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QUELLE

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