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Faschismus in Amerika?

Jüdische Einwanderer warnen vor der Zerbrechlichkeit der Demokratie

„Aus dem hier Dargelegten ergibt sich für uns jüdische Einwanderer, die wir den Faschismus am eigenen Leib erfahren haben, dass wir alle Kräfte anspannen müssen, um den Fortbestand der USA als eines demokratischen Staatswesens zu sichern. Auch hier sind einflussreiche Gruppen am Werk, die Errungenschaften der Demokratie zu untergraben.“

NEW YORK

In der August-Ausgabe des Aufbau bekam eine Gruppe nicht näher identifizierter junger Einwanderer Gelegenheit, zum Schutz und zur Aktivierung der Demokratie in den Vereinigten Staaten aufzurufen: Laut ihrer Auffassung waren es durch ungezügelte Aufrüstung entstandene Wirtschaftskrisen in den faschistisch regierten Ländern Europas, die diesen in ihren eigenen Augen die Legitimation zur Konfiszierung jüdischen Vermögens verschafften. Während die Gruppe die Großzügigkeit der Administration und ihre Bereitschaft zu sozialen Reformen zum Nutzen der vor dem Faschismus Geflohenen lobte, warnte sie vor den reaktionären Kräften, die diese Politik angriffen und ihren Versuchen, die Demokratie in den Vereinigten Staaten zu untergraben. Die Redaktionsleitung achtete darauf, sich von der Position der Gruppe hinsichtlich der Rolle der Wirtschaft in der Geschichte zu distanzieren, erklärte aber dennoch, ihr gern den Raum zu geben, vor der aus Einwanderern bestehenden Leserschaft der Zeitung ihre Bedenken auszubreiten.

Keine Kraft zum Schreiben

Aus Kummer fällt es einem Vater schwer, seine Tagebucheinträge weiter zu führen

“Helen ist ein großes Mädchen geworden. Es wäre in den letzten Monaten mehr denn je zum Schreiben gewesen, aber die Zeiten sind so ernst, dass die Kraft und Muße zum Schreiben fehlt.”

Hamburg

Ruth und Wilhelm Hesse, in Hamburg ansässig, hatten zwei kleine Töchter, Helen (geb. 1933) und Eva (geb. 1936). Wilhelm führte Tagebücher für beide Mädchen. Zwischen den Einträgen vom 3. Mai und vom 2. August ist eine große Lücke. Eine kurze Notiz zu Helens Geburtstag am 30. Juni scheint später hinzugefügt worden zu sein. Wie Wilhelm schreibt, machte der Ernst der Zeit das Schreiben schwer. Die fünfjährige Helen, die sich seit Mitte Mai in einem Kinderheim in Wohldorf-Duvenstedt aufhielt, beklagte sich schon, sie bekäme keine Post von ihren Eltern. Während Wilhelm im Allgemeinen mit der Entwicklung seiner Tochter zufrieden ist, vergisst er nicht zu erwähnen, dass Helen und drei ihrer kleinen Freunde eine Tracht Prügel bekommen hätten, weil sie 20 unreife Pfirsiche von einem Baum gepflückt und sie angebissen hatten. Vielleicht verschaffte die selige Unwissenheit der Kinder dessen, was sich um sie herum zusammenbraute, und ihr unschuldiges Vergehen dem jungen Vater ein minimales Gefühl der Normalität.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Helen und Eva Hesse Familie, AR 25327

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Schrittweise Arisierung

Jüdische Ärzte sollen nun die Zulassung verlieren

„Die Anzahl der Juden, die von dieser neuen Verordnung betroffen sind, wird auf zwischen 6000 und 7000 geschätzt.”

Berlin

Der Anteil von Juden unter den deutschen Ärzten war so hoch, dass den Nazis anfänglich ein umfassendes Berufsverbot nicht opportun erschien. Einstweilen begnügten sie sich damit, durch die „Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen“ vom 22. April 1933 „nicht-arischen“ Ärzten die Zulassung zur Arbeit in Zusammenhang mit den gesetzlichen Krankenkassen zu entziehen. Ausnahmen waren möglich, wenn sie bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs praktiziert hatten oder beweisen konnten, dass sie selbst oder ihr Vater Frontkämpfer gewesen seien. Ab 1937 konnten Juden nicht länger den Doktortitel erwerben. In einer Nachricht vom 3. August weist die Jewish Telegraphic Agency auf die Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz hin, die einige Tage zuvor erlassen worden war und laut der jüdische Ärzte mit Gültigkeit vom 30. September ihre Zulassung verlieren würden.

Wehrdienst

Seine jüdische Abstammung befreit Bruno Blum vom Wehrdienst

„Es wird bescheinigt, dass Herr Bruno Blum, geboren am 11. Aug. 1907 in Buczacz, laut den hieramts vorgelegten Urkunden Volljude ist.“

WIEN

Artikel 1 von §15 des Reichswehrgesetzes (verabschiedet am 21. Mai 1935) legte fest: „Arische Abstammung ist eine Voraussetzung für den aktiven Wehrdienst“. Nach der Gesetzesänderung des Jahres 1936 war die Ausdrucksweise noch klarer: „Ein Jude kann nicht aktiven Wehrdienst leisten“. Um Erlaubnis zu bekommen, das Land zu verlassen, mussten männliche Auswanderungsanwärter der örtlichen Militärbehörde ein Dokument vorlegen, das ihre jüdische Abstammung nachwies und damit bewies, dass sie sich durch Auswanderung nicht ihrer Wehrpflicht zu entziehen beabsichtigten. Im Rahmen der Formalitäten, die Bruno Blum zu erledigen hatte, um eine Auswanderungsgenehmigung zu erhalten, bestätigte am 4. August 1938 das Matrikelamt der Israelitischen Kultusgemeinde Wien seine jüdische Abstammung auf beiden Seiten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Blum Familie, AR 25132

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Grüße und Küsse

Eine liebe Nachricht an Oma in Breslau

„Hoffentlich sind Deine Schmerzen schon besser geworden. Viele herzliche Grüße und Küsse und einen guten שבת [Schabbes], auch an Blumenthals, Dein Enkelkind Michael“

Oldenburg/Breslau

Nach Handschrift und Stil zu urteilen, war Michael Seidemann recht klein, als er seiner Großmutter Louise Seidemann in Breslau diese Postkarte schickte. Interessanterweise war die Adresse, von der aus er schrieb, identisch mit der der Synagoge des Orts, Oldenburg. Obwohl die ersten Zeugnisse jüdischer Präsenz in Oldenburg aus dem 14. Jahrhundert stammen, sollte es bis 1855 dauern, bis die Gemeinde ihre erste zu diesem Zweck erbaute Synagoge eröffnete. Im Zuge der Emanzipation begannen Juden, zum Handel der Stadt beizutragen, indem sie unter anderem Schuhe, Bücher, Fahrräder und Musikinstrumente verkauften, aber auch als Viehhändler und in der Landwirtschaft. Ihr Anteil an der Bevölkerung ging selten über 1% hinaus. Dennoch kam es schon in den zwanziger Jahren zu Angriffen antisemitischer Schläger auf jüdische Geschäfte. 1933 hatte die Stadt 279 jüdische Einwohner aus einer Gesamtbevölkerung von 66.951. Als Michael diese Postkarte schrieb, waren von Dutzenden jüdischer Geschäfte und Betriebe nur zwei übrig geblieben.

Wartenummer

Helina Mayer ist auf Platz 9443 der Warteliste für einen Termin im US-amerikanischen Konsulat

„Sie sind unter der Nummer 9443 in der Warteliste der Visumantragsteller [sic] eingetragen und sollten jede Adresseänderung [sic] prompt mitteilen.“

Stuttgart

Juden waren bei Weitem nicht die einzigen „Unerwünschten“, die mit dem US-Einwanderungsgesetz von 1924 aus dem Land ferngehalten werden sollten. Zum Zeitpunkt der Einführung des Gesetzes waren bereits seit einem halben Jahrhundert Bemühungen im Gang, gewisse Nationalitäten auszuschließen, besonders Chinesen, Japaner und andere Asiaten. Anfang der zwanziger Jahre wurde ein Quotensystem eingeführt, das Einwanderer aus Nordeuropa begünstigte. Trotz der schweren Flüchtlingskrise, die durch die Verfolgung der Juden durch Nazi-Deutschland ausgelöst wurde, erfuhr das System in den dreißiger Jahren keine Anpassung an die dramatischen Umstände. Selbst für Angehörige der bevorzugten Ursprungsländer war die Erfüllung aller bürokratischen Voraussetzungen höchst beschwerlich, und das Warten konnte demoralisierend sein. Wie durch diese vom Generalkonsulat der Vereinigten Staaten in Stuttgart an Helina Mayer aus Mainz ausgestellte Karte dokumentiert, konnten die Antragsteller erwarten, gemäß ihrer Wartenummer zu einer Untersuchung vorgeladen zu werden, gesetzt den Fall, sie hatten „zufriedenstellende Beweise“ vorgelegt, dass ihr Lebensunterhalt in den Vereinigten Staaten gesichert sei.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Joan Salomon Familie, AR 25380

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Wir sehen uns in Genf

Mit neuen Rassengesetzen ist Rom keine Option mehr für Anneliese

„Bitte schreib mir nur nach Genf, wann wir uns sehen können. Ich freue mich schon sehr auf unser Wiedersehen.“

Biel/Villars-sur-Ollon

Bis 1933 spielte ihre jüdische Identität kaum eine Rolle im Leben von Anneliese Riess, einer vollkommen säkularen Studentin der klassischen Archäologie. Sobald jedoch die Nazis an die Macht kamen, war ihr klar, dass sie als Jüdin in Deutschland keine Zukunft hatte. Sie entschloss sich, nach Italien auszuwandern, wo sie promovierte (Rom, 1936). Da die Chancen, in Italien in ihrem Bereich Arbeit zu finden, äußerst gering waren, belegte die junge Frau 1937 einen anspruchsvollen Kurs für Kinderpflegerinnen in Genf. Nach einer Operation im Juni 1938 verbrachte sie mehrere Monate in Villars-sur-Ollon. Im Juli wurde in Italien das Generaldirektorium für Demographie und Rasse eingerichtet, das damit beauftragt war, die Rassengesetze des Landes zu formulieren. Somit fiel Rom als möglicher Zufluchtsort weg. Im selben Monat war der Vater in Amerika angekommen und bemühte sich nun, auch ihr die Einwanderung zu ermöglichen. Diese Postkarte, datiert vom 7. August und an Anneliese in Villars adressiert, war erfrischend frei von jedem Bezug auf die prekären Entwicklungen in Europa und verschaffte ihr die willkommene Aussicht auf ein Wiedersehen mit einem Freund inmitten aller Unsicherheit.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Anneliese Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, Ordner 9

Fluchtplanung mit touristischem Abstecher

Ein Reisebüro aus New York hilft Ursula Meseritz bei ihrer Reise in die USA

„Im Anschluss an ihren heutigen Besuch in unserem Bureau gestatten wir uns, Ihnen nachstehend Reiseplan und Abrechnung zu übersenden.“

New York

Als einziges Mitglied ihrer Familie hatte die 18jährige Ursula Meseritz Deutschland im Juli verlassen und sich auf der R.N.S. „Britannic“ von Le Havre aus nach New York eingeschifft. Adolf Floersheim, ein ehemaliger Nachbar, der seit 1937 in den Vereinigten Staaten ansässig war, hatte die Bürgschaft übernommen. Ihre Eltern, Olga und Fritz Meseritz, die die Ausreise in die Wege geleitet hatten, blieben in Hamburg zurück. Ein offenbar von deutsch-jüdischen Einwanderern geführtes Reisebüro, Plaut Travel auf der Madison Avenue in New York, hatte die Route für Ursulas Weiterreise an die Westküste – mit einem touristischen Abstecher in die Hauptstadt – ausgearbeitet und am 8. August an sie abgeschickt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Ursula Meseritz Elgart Familie, AR 25544

Original:

Archivbox 1, Ordner 14

Nichts Nachteiliges bekannt

Seelsorgestelle bescheinigt Edmund Wachs' Unbedenklichkeit

„Von der gefertigten Seelsorge wird hiermit bestätigt, dass gegen Herrn Edmund Wachs hieramts nichts Nachteiliges bekannt ist.“

Wien

Dieses Zeugnis, ausgestellt vom Rabbinat der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, war nur eines unter einer Vielzahl von Dokumenten, die Edmund Wachs zusammengestellt hatte, um seine Auswanderung in die Vereinigten Staaten zu ermöglichen. Kurz nach dem „Anschluss“ war Wachs in „Schutzhaft“ genommen worden, ein Mittel, das den Nazis durch die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, auch als „Reichstagsbrandverordnung“ bekannt, in die Hand gegeben worden war: Der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933, ein Brandanschlag auf das Parlamentsgebäude in Berlin, hatte als Anlass und Rechtfertigung für das Gesetz gedient. Es wurde bereits am darauffolgenden Tag erlassen und legalisierte die willkürliche Festnahme jeder Person, die der mangelnden Loyalität gegenüber dem Regime verdächtigt wurde. Das Gesetz legte den exakten Tatbestand nicht fest und kam weithin gegen Juden und politische Gegner zur Anwendung.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Edmund und Berta Wachs, AR 25093

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Alfred Döblin im Exil

Als französischer Staatsbürger feiert der Schriftsteller seinen 60. Geburtstag

Paris

Knapp einen Monat nach dem Zusammenbruch der Weimarer Republik, einer „Demokratie ohne Gebrauchsanweisung“, wie er sie in „Der deutsche Maskenball“ nannte, und einen Tag nach dem Reichstagsbrand hatte der Schriftsteller und Sozialdemokrat Alfred Döblin Deutschland verlassen. Nach kurzem Intermezzo in der Schweiz war er im September 1933 mit seiner Frau und seinen drei Söhnen nach Paris gezogen. Gelegentliche Publikationen im deutschsprachigen Exil-Verlag Querido (Amsterdam) warfen minimalen finanziellen Gewinn ab, und Döblins mangelnde Französischkenntnisse standen seinem beruflichen Fußfassen erheblich im Wege. Seit 1936 waren die Döblins französische Staatsbürger. Der 10. August 1938 war der 60. Geburtstag des Autors.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Porträt von Alfred Döblin

Original:

F 2087A

Einzelhachscharah in England

Die 17-jährige Marianne leidet allein in der Fremde

„Jetzt zu dem Punkt, der Dir momentan am wichtigsten ist. Papi hat Dir ja schon seine Ansicht geschrieben, es ist uns sehr darum zu tun, dass Du in England bleibst und so leid Du uns tust, dass Du Dich doch irgendwie durchfressen musst.“

Teplitz

Im Juli 1938 reiste die 17jährige Marianne Pollak ganz allein von Teplitz (Tschechoslowakei) nach England. Nicht an das dortige Klima gewöhnt, holte sich das junge Mädchen Rheuma und war rundherum in elender Verfassung. Alle paar Tage erhielt sie von ihrer Mutter fürsorgliche, liebevolle Briefe. Während Mariannes unglückliche Situation sie eindeutig bedrückte, führten ihr Frau Pollak und ihr Mann vor Augen, wie wichtig es sei, dass sie in England bleibe. Anscheinend war Marianne auf Einzelhachscharah, d.h., sie eignete sich Fähigkeiten an, die sie auf das Pionierleben in Palästina vorbereiten sollten. In Osteuropa hatte die Pionierbewegung „HeChaluz“ bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts zukünftigen Siedlern Schulungskurse angeboten. Eine deutsche Zweigstelle wurde 1923 eröffnet, aber die Bewegung gewann in Westeuropa erst während der Weltwirtschaftskrise an Boden und erlangte ihre größte Reichweite während der Jahre der Verfolgung durch die Nazis. Anstatt sich auf Lehrhöfen kollektiv vorbereiten zu lassen, konnten die jungen Leute ihre Ausbildung auch individuell bekommen, was bei Marianne der Fall gewesen zu sein scheint.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung John Peters Pinkus, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 22

Kündigung, weil Jude

Wohnprekariat trifft Juden in Wien

„Der Gekündigte ist Jude und kann den anderen Mietbewohnern [sic] ein Zusammenwohnen nicht länger zugemutet werden.“

WIEN

Bis 1938 lebten etwa 60.000 Juden im Wiener Bezirk Leopoldstadt, was ihr den Spitznamen „Mazzesinsel“ einbrachte. Zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Aufstieg des „Austrofaschismus“ 1934 hatte die sozialdemokratische Stadtregierung begonnen, Sozialwohnungen zu schaffen. Zur Zeit des Anschlusses herrschte in der Stadt ein massiver Wohnungsmangel. Die Nazis begannen, Juden aus Sozialwohnungen zu delogieren. Angesichts der Neigung der Polizei, Übergriffe auf jüdischen Besitz zu ignorieren, war es für antisemitische Vermieter leicht, diesem Beispiel zu folgen: Judesein genügte als Kündigungsgrund. Als der Hausbesitzer Ludwig Munz das Kündigungsformular für seine Mieter Georg und Hermine Topra ausfüllte, gab er gleich drei Gründe an: Angeblichen Eigenbedarf, Mietrückstand und Rücksicht auf die Nachbarn, denen ein Zusammenleben mit Juden nicht zugemutet werden könne.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Inv. Nr. 5171/2

Ellis Levy, Anwalt der Einwanderer

New Yorker Jurist baut Bildungsbrücke für Flüchtlinge

„Ich glaube nun, dass ihre Zulassung zu den Colleges der Stadt New York nicht nur einen Akt der Güte darstellen, sondern gleichzeitig auch einen Schritt in der gebotenen Richtung bedeuten würde, den Leuten zu helfen, nützliche und gebildete Mitglieder unserer Demokratie zu werden.“

NEW YORK

Ellis Levy, ein jüdischer Jurist, der in New York lebte, beschloss, sich die Sache der Einwanderer zu eigen zu machen, die vor der Verfolgung durch die Nazis flohen. In einem Brief an Bürgermeister LaGuardia, der auszugsweise in der August-Ausgabe des „Aufbau“ veröffentlicht wurde, wies er darauf hin, dass viele der Neuankömmlige vollkommen mittellos ins Land kämen, in vielen Fällen, nachdem sie zum Abbruch ihres Studiums oder ihrer Berufsausbildung gezwungen worden seien. Kurz später sollte vor dem „Ausschuss für Höhere Bildung“ eine Gesetzesvorlage eingebracht werden, in der es um die Möglichkeit der Öffnung städtischer Colleges in New York für Nicht-Staatsbürger ging. Der Jurist bat Bürgermeister LaGuardia, seinen Einfluss auf den Ausschuss geltend zu machen, um eine positive Entscheidung zu bewirken. Dies, so argumentierte er, würde sowohl den Bedürfnissen der Einwanderer als auch dem Interesse der Demokratie in den Vereinigten Staaten entgegenkommen. Tatsächlich wurde beschlossen, mit Wirkung vom 1. September des laufenden Jahres ernsthaften Anwärtern auf US-Staatsbürgerschaft mit angemessener Vorbildung ein solches Studium zu ermöglichen.

Selbst ist die Frau

Eine unabhängige Unternehmerin muss um Hilfe bitten

„Ich glaube, ich schreibe an die Kinder von Emanuel und Victoria Magen, und ich flehe Euch an, uns zu helfen, nach Amerika zu kommen.“ ”

Berlin

Die Berlinerin Gusty Bendheim hatte den amerikanischen Zweig ihrer Familie nie kennengelernt. 42 Jahre alt und geschieden, hatte sie keine andere Wahl, als sich an ihre Verwandten in Übersee zu wenden. Sie bat die quasi Fremden um Hilfe, ihr und ihren Kindern Ralph (13) und Margot (17) die Auswanderung zu ermöglichen. Gusty war ein unternehmerischer Typ: Zum Zeitpunkt ihrer Heirat mit Arthur Bendheim, einem Kaufmann aus Frankfurt am Main, hatte sie bereits das dritte Knopfgeschäft gegründet. Nach der Hochzeit übernahm Arthur die Geschäftsleitung, und Gusty wurde zur Hausfrau. Trotz der zunehmend besorgniserregenden anti-jüdischen Maßnahmen des Naziregimes war Arthur nicht gewillt, das Land zu verlassen. Nach der Scheidung des Paares 1937 nahm Gusty die Dinge selbst in die Hand: In diesem Brief vom 14. August 1938 an ihre unbekannten Verwandten ergänzt sie ihre Bitte um Hilfe durch die Versicherung, ihr geschiedener Mann sei bereit, die Reisekosten für sie und die Kinder in die Vereinigten Staaten zu übernehmen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Margot Friedlander, AR 11397

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Ferienidylle

Ein sonniger Brief an den Vater

„Uns geht es gut. Die Sonne scheint seit zwei Tagen, so dass wir schwimmen gehen konnten, aber für morgen sagt das Radio Regen an.“

Nespeky/Prag

Hitlers Pläne für die Tschechoslowakei hätten eindeutiger nicht sein können: Am 30. Mai 1938 hatte er in einer Weisung an die Wehrmacht mitgeteilt, es sei sein „unabänderlicher Beschluss“, die Tschechoslowakei „in absehbarer Zeit“ zu zerschlagen. Schon Monate zuvor hatte er den Führer der seit Jahren teilweise von Nazideutschland finanzierten Sudetendeutschen Partei, Konrad Henlein, dazu angestachelt, durch nicht erfüllbare Forderungen für die deutsche Minderheit eine Konfrontation heraufzubeschwören. Unter dem Einfluss der Ereignisse in Deutschland hatte der Antisemitismus im Land zugenommen, hatte aber bisher nur in den überwiegend von Deutschen bewohnten Grenzgebieten Nord- und Westböhmens zu Boykotten und tätlichen Übergriffen geführt. Während sich im Hintergrund eine Krise zusammenbraute, war der Psychiater und Schriftsteller Josef Weiner mit seiner Frau Hanka und den zwei kleinen Töchtern im zentralböhmischen Städtchen Nespeky in Urlaub. Hankas Briefchen (in tschechischer Sprache) an ihren Vater, den renommierten Prager Rechtsanwalt Oskar Taussig, atmet reine Ferienidylle und verschont den rekonvaleszenten Empfänger vor allem Unerfreulichen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Winn Familie, AR 25493

Original:

Archivbox 1, ordner 5

Jüdische Leibesertüchtigung

Antwort auf ein antisemitisches Stereotyp

Frankfurt am Main

Ein klassischer antisemitischer Topos des 19. Jahrhunderts war die Vorstellung, Juden seien schwach, unsportlich und verweichlicht. Um diesem Stereotyp entgegenzuwirken, schuf der zionistische Arzt, Schriftsteller und Politiker Max Nordau auf dem 2. Zionistischen Kongress in Basel (1898) das Gegenkonzept des „Muskeljuden“: Anknüpfend an Vorbilder jüdischen Kämpfertums wie Bar Kochba und die Makkabäer, rief er zur Regeneration des jüdischen Volkes durch körperliche Ertüchtigung auf. Keine zwei Monate später wurde in Berlin der jüdische Sportverein Bar Kochba gegründet. Mehr und mehr jüdische Sportvereine entstanden, von denen viele der zionistischen Bewegung nahestanden. Die Ortsgruppe des Bar Kochba Frankfurt/Main wurde 1904 ins Leben gerufen. Eines seiner Teams posiert hier für die Kamera.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Bar Kochba, Frankfurt/Main, AR 11260

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Sara und Israel

Pflicht zu jüdischen Zusatz-Vornamen

„(1) Soweit Juden andere Vornamen führen, als sie nach § 1 Juden beigelegt werden dürfen, müssen sie vom 1. Januar 1939 ab zusätzlich einen weiteren Vornamen annehmen, und zwar männliche Personen den Vornamen Israel, weibliche Personen den Vornamen Sara.“

Berlin

Zweimal im Verlauf der deutschen Geschichte wurden die Juden gezwungen, ihre Namen zu ändern: Zum ersten Mal durch die Einführung von (oft stigmatisierenden) Familiennamen während der Emanzipation, zum zweiten Mal durch die Einführung der obligatorischen Zusatz-Vornamen Sara für jüdische Frauen und Israel für jüdische Männer (17. August 1938). Auf diese Weise sorgte das Regime für die Ausgrenzung der Juden, deren Identität nun keine Privatsache mehr sein konnte. Wenn der Vorname eines Juden oder einer Jüdin auf einer offiziell abgesegneten Liste stand, wurde kein zusätzlicher Name verlangt. Außerdem verlangte das Regime von Juden, die ihren Familiennamen geändert hatten, um sich anzugleichen und Diskriminierung zu verhindern, ihren vorherigen Namen wieder anzunehmen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt Hirschfeld, AR 25708

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Jahreschronik 1938

Juden gezwungen, neue Vornamen anzunehmen

Auf dem Pass einer jüdischen Frau ist der gesetzlich verordneten Mittelname „Sara“ deutlich sichtbar. Sammlung Marianne Salinger, Leo Baeck Institute.

Jüdische Deutsche mit einem Vornamen, der aus Sicht der Nationalsozialisten nicht „typisch jüdisch“ ist, werden per Verordnung gezwungen, ab 01. Januar 1939 einen zusätzlichen Vornamen anzunehmen—Männer den Namen Israel, Frauen den Namen Sara. Die Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen zielte darauf ab, Juden anhand ihrer Vornamen als Juden kenntlich zu machen. Es handelt sich um den ersten Versuch, die Juden äusserlich als solche zu kennzeichnen und dauerhaft von der übrigen deutschen Bevölkerung zu trennen. Am 24. Januar 1939 dehnen die Nationalsozialisten die Gültigkeit der Verordnung auf Österreich und die sudetendeutschen Gebiete aus.

Zur Jahreschronik 1938

Fragebogen

Antisemitismus im sächsischen Merseburg treibt Bernhard Taitza ins Ausland

„Mittel für den Existenzaufbau unter der Voraussetzung, dass die Mitnahme bewilligt wird; Mittel für Reisespesen: ‘Keine. RM 8000.- in Deutschland beschlagnahmt, um deren Freigabe ich mich bemühe. Andernfalls stellen die Verwandten in Amerika genügend Existenzmittel zur Verfügung.’”

Prag

Die unbedeutende Anzahl von Juden im sächsischen Merseburg (50 Personen bei einer Gesamtbevölkerung von 31.576 im Jahr 1933) brachte die Nationalsozialisten vor Ort nicht davon ab, sie in Angst und Schrecken zu versetzen: Bereits 1934 berichtete Bernhard Taitza, ein Kaufmann, von der Qual jüdischer Einwohner, an deren Wohnungen Nazi-Formationen vorbeimarschierten und antisemitische Lieder sangen. Schließlich wurde die Situation so unerträglich, dass er 1938 Deutschland verließ und nach Prag ging. Tage später, am 18. August, reichte er diesen Fragebogen bei der HICEM ein, einer Organisation, die 1927 durch einen Zusammenschluss der Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS), der Jewish Colonization Association und Emigdirect, einer weiteren jüdischen Migrationsorganisation, entstanden war. Glücklicherweise hatte Taitza zwei Kinder in Amerika und war bereits mit einer Bürgschaft ausgestattet, so dass er sich nicht allzu sehr sorgen musste, ob er das Geld, das die Nazis konfisziert hatten, je wiederbekommen würde.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Bernhard Taitza, früher Merseburg, trifft in der CSR ein.

Nach Haifa? Nicht jetzt.

Onkel Alfred rät Neffen ab von Besuch

„Der Zeitpunkt, zu dem wir hierherkommen sollen, wird nach meiner Auffassung von weit höherer Seite bestimmt, das Schicksal wird uns zeigen, wenn wir hierherkommen sollen. Ich habe noch niemals so viele unglückliche Menschen in einem Land konzentriert gesehen, wie hier.“

Haifa/Meran

Nach sechs Jahren in Palästina war Alfred Hirschs Urteil eindeutig: Angesichts der politischen, klimatischen und wirtschaftlichen Struktur des Landes könnten selbst ausgesprochen intelligente, ausdauernde Menschen nicht viel erreichen. Bei seinem Versuch, seinem Neffen Ulli das Kommen auszureden, nahm er kein Blatt vor den Mund. Im sehr säkularen Haifa ansässig, war Alfred Hirsch überzeugt, für einen jungen orthodoxen Juden wie Ulli wäre das Leben in Palästina zum gegenwärtigen historischen Zeitpunkt eine große Enttäuschung. Zwischen der Atmosphäre, die durch das kollektive Elend einer großen Anzahl entwurzelter, bedrückter Menschen erzeugt wurde und den politischen Unruhen, die ernsthafte wirtschaftliche Probleme hervorriefen, erschien Onkel Alfred der Zeitpunkt nicht richtig. (Mit politischer Unruhe gemeint sind der Arabische Aufstand in Reaktion auf den massiven Zustrom europäischer Juden und die Aussicht auf die Errichtung einer Nationalen Heimstätte für die Juden, wie durch die Balfour-Erklärung 1917 vereinbart.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Julius und Elisabeth Hirsch, AR 25585

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

650 Reichsmark und 50 Pfennige

Mit der Columbus nach New York

„Schiffskarten - Eisenbahnkarten - Flugkarten nach allen Ländern“

Berlin/Bremen/New York

Nur wenige Häuser vom Palästina-Amt der Jewish Agency for Palestine entfernt, auf der Meinekestraße 2 in Berlin, befand sich das Reisebüro „Palestine & Orient Lloyd“, das in enger Zusammenarbeit mit der Agency stand und vielen Tausenden von Juden bei der Auswanderung aus Nazi-Deutschland behilflich war – durchaus nicht nur nach Palästina. Einer dieser Auswanderer war Dr. Rolf Katzenstein. Am 20. August 1938 stellte ihm der „Palestine & Orient Lloyd“ diese Rechnung für die Überfahrt nach New York aus, die am 27.8. an Bord der Columbus von Bremen aus starten sollte.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Sammlung:

Rechnung "Palestine & Orient Lloyd" für Rolf Katzenstein, Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Ruth Gützlaff geb. Katzenstein

Tagesgeschehen zum 18. Geburtstag

Hugo Jellinek gratuliert seiner Tochter und kommentiert die aktuellen Entwicklungen

„Böhmen ist eine harte Nuss, an der sich diese Räuberbande die Zähne ausbrechen werden [sic] oder sagen wir eine Buchtel, an der diese wahnsinnig gewordenen Teufel ersticken werden. Trotz der vielen hiesigen deutschen Hochverräter ist [sic] Regierung und Volk einig in dem unerschütterlichen Willen, die Freiheit und demokratischen Errungenschaften bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Hugo Jellinek war stolz auf seine Tochter Gisella, die während der Hachschara zu einer glühenden Zionistin geworden und wenige Monate zuvor als Teil einer Gruppe wagemutiger Jugendlicher nach Palästina eingewandert war. Zum 18. Geburtstag schickte er seiner erstgeborenen Tochter nicht nur Glückwunsche, sondern ließ sie auch ausführlich an seinen Gedanken zum Tagesgeschehen teilhaben: Deutsche Manöver entlang der tschechoslowakischen Grenze beunruhigten ihn sehr, doch er war überzeugt, anders als im Fall Österreichs würde die Wehrmacht mit scharfem Widerstand zu rechnen haben. Das Misstrauen und der Mangel an Solidarität wohlhabender Brünner Juden gegenüber jüdischen Flüchtlingen erfüllten ihn mit Bitterkeit. Auch war er sehr besorgt wegen der Räumungsbescheide, die bei österreichischen Juden eingingen. Bei allen Sorgen und Klagen verschaffte eine neue Damenbekanntschaft einen Lichtblick.

Zugzwang

Joachim Weinert erlebt Drängen und Warten im Kampf mit der Bürokratie

„Ich behalte mir strafrechtliche Maßnahmen gemäß § 33 Dev.V.O. vor und setze ihnen zur Erledigung eine Frist von 3 Tagen.“

WIEN

Innerhalb der ersten Monate nach der Annexion Österreichs durch die Nazis hatte Dr. Joachim Weichert, ein in der Tschechoslowakei geborener Rechtsanwalt, den größten Teil seiner Klienten verloren. Er hatte keine Wahl, als mit der Zusammenstellung der für die Emigration notwendigen Dokumente zu beginnen. Im Juni wurde die Familie vom Generalkonsulat der Vereinigten Staaten benachrichtigt, gültige Bürgschaften und andere Dokumente für sie seien für sie aus Amerika eingetroffen. Da jedoch die tschechische Quote für den Augenblick erschöpft war, wurden sie auf eine Warteliste gesetzt. Außerdem wurde ihnen Mitteilung gemacht, dass innerhalb der nächsten acht Monate nicht mit dem Erhalt der Visen zu rechnen sei. Am 22. August war es fast zwei Wochen her, dass Dr. Weichert von der Devisenstelle in Wien aufgefordert worden war, innerhalb einer Woche eine detaillierte Liste seines Besitzes aufzustellen. In dieser offiziellen Mitteilung vom 22. August wird ihm ein Ultimatum von drei Tagen gestellt, nach dessen Ablauf er mit strafrechtlichen Massnahmen rechnen müsse.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Weichert Familie, AR 25558

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Neues von den Kleinman(n)s

Kurt in der Schweiz, Schwester und Schwager mögen folgen

„Mein jüdischer Name ist Elke, und da ich Jiddisch spreche und Du Deutsch, sollten wir einander sehr gut verstehen können.“

NEW YORK/BASEL

Der Wiener Kurt Kleinmann und die New Yorkerin Helen Kleinman waren einander nie persönlich begegnet. Nachdem Kurt die kreative Idee hatte, eine Familie ähnlichen Namens in New York zu kontaktieren, in der Hoffnung, die amerikanischen Namensvettern wären vielleicht bereit, ihm bei der Beschaffung einer Bürgschaft behilflich zu sein, entwickelte sich eine zunehmend intensive Korrespondenz zwischen dem jungen Mann und der Tochter der Kleinmans. Helen nahm die Angelegenheit entschlossen in die Hand: Drei Monate nach Kurts erster Kontaktaufnahme mit den Kleinmans, als Helen diesen Brief schrieb, war nicht nur Kurts Auswanderung in Bearbeitung. Sie hatte auch eine Tante aktiviert, für seinen Cousin eine Bürgschaft zu übernehmen, mit dem ihm in der Zwischenzeit die Flucht in die Schweiz gelungen war. Außerdem bestand Hoffnung, dass eine andere Tante dasselbe für Kurts Schwester und Schwager tun würde, die noch in Wien festsaßen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt und Helen Klenmann, AR 10738

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Sommerfrische und eine unklare Zukunft

Der Onkel von Liesl Teutsch schreibt seiner Nichte eine Ansichtskarte

„Viele Grüße vom reichlich verregneten Urlaub, bei dem auch sonst weder die richtige Erholung noch die dazu gehörige Stimmung aufkommen will.“

FILZMOOS/WIEN

Bereits Jahrzehnte vor dem Anschluss war Antisemitismus an österreichischen Urlaubsorten nicht ungewöhnlich. Das Phänomen hatte sogar einen Namen: “Sommerfrischen-Antisemitismus”. Dennoch blieben die Ferienanlagen unter österreichischen Juden sehr beliebt. Aber als Liesl Teutschs Onkel im August 1938 seinen Urlaub in Filzmoos im Salzburgerland verbrachte, konnte selbst das atemberaubende Panorama seine Gedanken nicht von den beunruhigenden Entwicklungen ablenken. In dieser Postkarte an seine Nichte in Wien macht er deutlich, dass nicht nur das schlechte Wetter ihn um seine Erholung brachte. Er scheint nervös angesichts seiner anstehenden Rückkehr nach Wien, wo ihn eine ungesicherte Zukunft erwartet.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Elisabeth Deutsch Familie, AR 25179

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Not macht erfinderisch

Intellektuelle planen Wohnkolonie in USA für arbeitslose jüdische Ärzte

„Sie wissen, dass wir alle vom 1. Oktober an nicht mehr Ärzte sind; die deutsche Approbation ist allen unseres Glaubens entzogen. Es gibt natürlich eine Menge, die dann nicht wissen, wovon zu leben und auch hier nicht weiter leben können.“

BERLIN/NEW YORK

Die Existenzkrise jüdischer Ärzte in Deutschland, die verschiedene Stadien (Ausschluss aus dem öffentlichen Gesundheitswesen und aus Krankenkassen, Verbot der Zusammenarbeit zwischen jüdischen und „arischen“ Ärzten etc.) durchlaufen hatte und durch das Berufsverbot im Juli 1938 eskalierte, machte schöpferische Lösungsansätze erforderlich. Am 25. August schrieb Dr. Felix Pinkus, ein renommierter Berliner Dermatologe, an seinen Freund Sulzberger in Amerika, um ihn als Mitstreiter für ein Hilfsprojekt zu gewinnen: Der Soziologe und Nationalökonom Franz Oppenheimer war darauf gekommen, in den Vereinigten Staaten eine Art Wohnkolonie für ehemalige Ärzte einzurichten, deren Finanzierung durch Spenden amerikanisch-jüdischer Ärzte bestritten werden sollte. Laut Oppenheimers Berechnungen wäre damit zu rechnen, dass etwa 1000 Ärzte diese Lösung in Anspruch nehmen würden. (Dr. Pinkus schätzte, es wären eher 3000.)

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Felix Pinkus Familie, AR 25456

Original:

Archivbox 1, Ordner 41

Neuankömmlinge

Das Boston Committee for Refugees tut, was es kann

„ISAAC BIRNBAUM, Alter 53, Tabak- und Kleiderhändler, spricht überhaupt kein Englisch.“

Boston

Das Boston Committee for Refugees war die erste der amerikanisch-jüdischen Selbsthilfegruppen, die Juden halfen, Europa zu verlassen und in den Vereinigten Staaten ein neues Leben aufzubauen. 1933 gegründet, bestand es ausschließlich aus Freiwilligen. Unter der Führung Walter H. Bieringers und Willy Nordwinds bemühte sich das Committee in erster Linie darum, angehenden Einwanderern Bürgschaften zu verschaffen und für ihre Beschäftigung nach ihrer Ankunft im Land zu sorgen. Seit der Weltwirtschaftskrise war das Außenministerium angehalten, Menschen fernzuhalten, bei denen „die Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie der Öffentlichkeit zur Last fallen” würden, und es war von größter Wichtigkeit, den Lebensunterhalt der Flüchtlinge sicherzustellen. Die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland (der „Anschluss“) und das monumentale Versagen der Konferenz von Évian verstärkten die Dringlichkeit der Unterstützung der verzweifelten Asylsuchenden. Am 26. August 1938 schickte der amtierende Geschäftsführer der Organisation Bieringer diese Liste von Neuankömmlingen, die der Vermittlung bedurften.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Willy Nordwind, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 38

Kontakte sind Geld wert

Agnes Graetz nutzt ihr Netzwerk, um ihrer Tochter die Auswanderung in die USA zu ermoeglichen

„Ich bitte Sie, mir, wenn irgend möglich in Kürze zu schreiben, ob Sie eine Möglichkeit sehen, die nicht - wie das jetzt üblich zu sein scheint - unwahrscheinlich hohe Garantien und Rechtsanwaltskosten erfordert.“

Luzern

Eine Krankheit auf Reisen zwang Wilhelm Graetz 1938, seinen Aufenthalt in der Schweiz auszudehnen. Angesichts der sich zuspitzenden Situation entschloss er sich, sein Zuhause in Berlin aufzugeben. Das vormals gut situierte Ehepaar konnte seinen vier erwachsenen Kindern finanziell nicht unter die Arme greifen, hatte aber den Vorteil weit verzweigter Kontakte: Wilhelm Graetz war Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gewesen und kannte als Leiter des deutschen „ORT“ vielerorts potentielle Helfer. Im August führte ihn eine Reise nach Ungarn. Am 27. nutzte seine Frau Agnes die Zeit, bei dem bekannten Territorialisten und „ORT“-Führer David Lvovicz um Hilfe für eine ihrer drei Töchter zu bitten, die dringend eine Bürgschaft brauchte, um nach Amerika auswandern zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung William Graetz, AR 4121

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

„Illegale“ Einwanderin

Gisella Jellinek wird in Palästina zu Nadja

„Ich gratuliere Dir nachträglich zu Deinem 18. Geburtstage und wünsche Dir, das, was Du Dir wünschst, ein recht langes Leben, Gesundheit, Heldentum, Mut, gute Chawera zu sein und dass Dein Ideal in Erfüllung geht und nicht vergessen (...) recht viel Arbeit.“

BRÜNN/Rischon Lezion

Unter abenteuerlichen Umständen war Gisella Jellinek im Juni 1938 nach Palästina gelangt. Als Teil einer Gruppe von mehreren hundert Jugendlichen war sie in das Mandatsgebiet eingeschmuggelt worden. Um zu verhindern, von den britischen Mandatsbehörden als illegale Einwanderin aufgespürt zu werden, musste sie sich vom Augenblick des Landgangs in Palästina an die Hebräischkenntnisse zunutze machen, die sie im zionistischen landwirtschaftlichen Ausbildungslager in Österreich erworben hatte. Etwa zwei Monate nach ihrer Ankunft in Palästina wurde Gisella, die sich jetzt Nadja nannte, 18 Jahre alt. In diesem nachträglichen Geburtstagsbrief wünscht ihr ihre Schwester Berta „Heldentum, Mut und eine gute Chawerah (Kibbutz-Mitglied) zu sein“.

Widerstand durch Passfälschung

Der Postausweis des Felix Perls

Berlin

Der jüdische Kaufmann Felix Perls wird 1883 in Beuthen in Oberschlesien geboren. Zum 1. April 1938 muss er aufgrund von NS-Bestimmungen seine Tätigkeit als Direktor der Oberschlesischen Holzindustrie-Aktiengesellschaft aufgeben. Zwei Monate später ziehen er und seine Frau Herta nach Berlin-Grunewald, um den Anfeindungen in Beuthen zu entgehen. Perls‘ Postausweis aus dem Jahr 1938 wurde von ihm gefälscht: Er änderte das Ausgabedatum und die Gültigkeitsdauer. Postausweiskarten wurden für den Empfang vertraulicher Postsendungen benötigt, wurden aber auch außerhalb der Post als Ausweisdokument anerkannt.

Ma’ayan Tsvi

Makkabi-Bewegung bereitete in Deutschland Gruendungsmitglieder der Siedlung aus

Ma'ayan

Der wachsende Zustrom europäischer Juden auf der Flucht vor den Nazis nach Palästina führte zum Widerstand seitens der palästinensischen Araber: 1936 brach eine bewaffnete Revolte aus. Während dieser Zeit machten sich jüdische Siedler ein Gesetz aus der Zeit des Osmanischen Reiches zunutze, laut dem ein nicht genehmigter Bau nicht abgerissen werden durfte, sobald er ein Dach besaß: Sie errichteten im Schutz der Nacht aus vorgefertigten Teilen einen von einer Palisade umgebenen Zaun, so dass im Fall der Entdeckung durch Beamte der britischen Mandatsmacht nichts dagegen unternommen werden konnte. Gleichzeitig war ein Bau dieser Art sofort verteidigungsfähig gegenüber Angriffen lokaler Araber. Eine dieser Siedlungen war Ma’ayan (später bekannt als Ma’ayan Tsvi), westlich von Sichron Jaakow auf der nördlichen Küstenebene gelegen. Ihre 70 Gründungsmitglieder waren als Mitglieder der Makkabi-Bewegung in Deutschland (und ab 1935 in Palästina selbst) auf das Pionierleben im Lande vorbereitet worden.

QUELLE

Institution:

Courtesy of Kedem Auction House

Original:

Photograph Album – Establishment of Ma'ayan Tzvi Kibbutz

Hauptsache raus

Wachsende Demoralisierung der Juden drängt sie aus dem Land

„Der Arisierungsprozess geht unaufhaltsam weiter, da gibt es kein Halten mehr. Ob noch einmal die Wunder des Alten Testaments kommen werden? Wie war es doch so schön zu dieser Zeit! Der Durchzug durch das Rote Meer .....! Heuschreckenplage .....! Sterben der Erstgeborenen .....! usw. - aber wir liegen heute in der verkehrten Zone, und das Alte Testament darf nicht mehr gelesen werden.“

BONN/NEW YORK

In diesem Brief an seine Freunde Betty und Morris Moser in New York, geschrieben am 31. August 1938, nahm der Bonner Ludwig Gottschalk kein Blatt vor den Mund: Inzwischen seien die Juden in Deutschland dermaßen demoralisiert und lebten in einem so beständigen Zustand der Angst, dass der Wunsch, das Land zu verlassen, allgegenwärtig sei, egal, was „draußen“ zu erwarten sei. Seinen Informationen zufolge sei das US-Konsulat in Stuttgart durch die Vielzahl der Einwanderungsanträge derartig überlastet, dass neue Bürgschaften zur Zeit gar nicht bearbeitet würden. Die Gottschalks hatten bereits eine Nummer auf der Warteliste und rechneten damit, relativ bald emigrieren zu können. In der Zwischenzeit lernten sie Englisch. Ludwig spielte auf die Veränderungen, die sich seit der Abreise der Freunde in Deutschland ereignet hatte, an, indem er sie „Israel“ und „Sara“ nannte: Am 17. August war ein Erlass ergangen, der die Juden zwang, ihrem Vornamen je nach Geschlecht einen dieser Namen hinzuzufügen und damit ihre jüdische Identität unübersehbar zu machen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Betty und Morris Moser, AR 25497

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

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