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Politische und andere Erdbeben

Die Perspektive eines Kindes

„Es ist ein Glück, das ich schon mein Tagebuch angefangen habe! Denn wir leben ja in einer so abwechslungsreichen Zeit!“

Wien

Tage nach seinem 12. Geburtstag am 15. April 1938 musste Harry Kranner, zusammen mit all seinen jüdischen Schulkameraden, das Realgymnasium Kandlgasse in Wien verlassen. Im November waren Harrys Mutter Gertrude und sein Stiefvater Emil Fichmann damit beschäftigt, Vorbereitungen zur Auswanderung zu treffen. Harry zeigt sich sehr enthusiastisch über die Aussicht des Reisens und über die verschiedenen Ausrüstungsgegenstände, die er bekommt: im Eintrag für den 8. November in dem neuen Tagebuch, das ihm seine Mutter gegeben hat, damit er seine Auswanderungserfahrungen festhalten kann, berichtet er begeistert von seinen neuen Lederhandschuhen. Aber der größte Teil des Eintrags beschäftigt sich mit dem Erdbeben in der vergangenen Nacht.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Harry Kranner Fiss, AR 25595

Original:

Archivbox 1, Ordner 12

Abschied für immer?

Trennung um des Überlebens Willen

„Edith lernt jetzt fleissig spanisch, denn es besteht eine leise Aussicht, dass sie nach Südamerika kommt. Wir sind sehr traurig darüber, denn wir sind uns klar, dass das einen Abschied fürs Leben bedeutet, und wir sind trotz des Wissens um die Notwendigkeit ihrer Ausreise fassungslos.“

Wien/Brooklyn

Aus der blühenden neunzehnjährigen Idealistin Hedwig Weiler, in die sich Franz Kafka 1907 bei einem Ferienaufenthalt in Triesch (Mähren) verliebte, ist inzwischen eine promovierte Akademikerin und die Ehefrau des Ingenieurs Leopold Herzka geworden. Die Ereignisse des Jahres 1938 in Österreich haben zum Auseinanderdriften ihres Freundeskreises in alle Himmelsrichtungen geführt. Am 6. XI. 1938 zählt sie in einem Brief an ihre ehemaligen Wiener Nachbarn, die nach Amerika ausgewanderte Familie Buxspan (später Buxpan), eine lange Reihe von Verwandten und gemeinsamen Freunden auf, die entweder bereits emigriert sind oder beabsichtigen, es zu tun. Besonders schwer ist für Hedwig Herzka die Aussicht auf die Auswanderung ihrer Tochter Edith nach Südamerika, und ihre Nerven liegen blank.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Max Buxpan, AR 6141

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Mehr Moskitos als in Palästina

Texanische Gastfreundschaft erleichtert Flüchtlingen den Neubeginn

„Das zweite ist die kaum glaubliche Gastfreundschaft, die jedem in diesem Land entgegengebracht wird. Und dabei geschieht nichts mit besonderer Aufmachung, sondern die Leute lassen einen gleich in ihrem Hause mitleben, als ob man zur Familie gehörte. Und der Polizist oder die Verkäuferin - ganz gleich, wer es ist - alle sind gefällig, weil sie gar nicht anders können.“

Houston, Texas

Mit einer dokumentierten Anwesenheit, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht, und als zweitgrößte Gemeinde Deutschlands, waren die Frankfurter Juden ein zutiefst etablierter Teil der Gesellschaft. Doch unter den Nazis wurden sie, wie alle deutschen Juden, wie Fremde in ihrer eigenen Stadt und in ihrem eigenen Land behandelt, und viele verließen Deutschland. Die November-Ausgabe des „Jüdischen Gemeindeblatts für Frankfurt am Main“ zeigt die Allgegenwart des Themas „Emigration“: Zahlreiche Inserate boten Dienstleistungen und Ausrüstung speziell für Auswanderer. Der „Hilfsverein der Juden in Deutschland“ bot die letzten Neuigkeiten über die Auflagen zur Einwanderung in verschiedene Länder, aber auch eine Warnung, nicht Betrügern in die Falle zu gehen, die Auswanderungswilligen beträchtliche Summen für nutzlosen Rat abnahmen. Ein Beitrag fällt jedoch aus dem Rahmen. In einem Brief aus Houston, Texas, teilt eine frühere Frankfurterin ihre ersten Eindrücke mit: Die Hitze war eine Herausforderungen, Kartoffeln spielten auf der amerikanischen Speisekarte keine ausreichend große Rolle, Mücken und Mückengitter („more mosquitos than in Palestine“) und Plastikblumen, wie auch Riesenspinnen und fliegende Kakerlaken waren gewöhnungsbedürftig. Aber andererseits gab es auch Einbauschränke und große Betten, und, das Allerbeste, die „kaum glaubliche Gastfreundschaft“ der Einheimischen.

Ein Mädchen geht voran

Hoffnung auf eine Zukunft in Palästina

„Ich stel mir vor das es Euch dorten gut geht. Es kommt mir vor nach eueren Schreiben wie in einem Paradis. Liebe Lotte du kannst mir glauben ich möchte an euerer Stelle sein, den das Leben hier ist sehr traurig und fad überhaupt jetzt wo Benno nicht zuhause ist.“

Wien/Gan Schmuel

Die Ankunft von Gertrude Münzers erstem Brief aus Palästina war ein Anlass zu Freude, Erleichterung und Hoffnung für ihre Familie, die in Wien zurückgeblieben war. Die Münzers waren eine gut integrierte Familie, aber nach der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland wandte sich das Blatt, und sie gerieten zunehmend in Bedrängnis: Zunächst wurden sie aus ihrer Wohnung geworfen, dann verlor Moses Münzer seine Stelle. Mit Unterstützung ihrer Eltern ging Gertrude als einziges Mitglied ihrer Familie mit einer zionistischen Jugendgruppe nach Palästina. Angeregt durch ihr Beispiel, war ihr älterer Bruder Benno auf Hachscharah gegangen. In seiner Ratlosigkeit bittet ihr Vater in seinem Antwortbrief seine 15jährige Tochter inständig, im Kibbuz oder anderswo um Unterstützung für ihn nachzusuchen, damit er mit dem Rest der Familie nachkommen kann.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gertrude Knopf Familie, AR 11692

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Source available in English

Abschied im Schatten der Politik

Ein Komponist findet seinen Ort

Hollywood

Herr Wachsmann, ein Industrieller in Königshütte, Oberschlesien, versuchte, seinen begabten Sohn Franz davon abzuhalten, die brotlose Karriere eines Musikers einzuschlagen. Für das jüngste seiner sieben Kinder stellte er sich eine solidere Karriere vor. Aber Franz war nicht abzubringen: während er für kurze Zeit als Kassierer in einer Bank arbeitete, benutzte er sein Gehalt, um seine eigentlichen Interessen zu finanzieren: Klavier-, Musiktheorie- und Kompositionsunterricht. Nach zwei Jahren in dem ungeliebten Beruf ging er nach Dresden, später nach Berlin, um Musik zu studieren. Der Komponist Friedrich Hollaender, der die Begabung des jungen Mannes erkannte, bat ihn, seine Partitur für den legendären Film „Der blaue Engel“ mit Marlene Dietrich (1930) zu instrumentieren. Als Franz 1934 von Nazi-Schlägern verprügelt wurde, bedurfte er keiner weiteren Überredung, Deutschland zu verlassen: noch am selben Abend bestieg er einen Zug nach Paris. 1935 zog er in die Vereinigten Staaten, wo er unter dem Namen „Waxman“ schnell zu einem gesuchten Filmusikkomponisten wurde. Am 3. November 1938 kam Richard Wallaces Film „The Young in Heart“ in die Kinos – mit Filmmusik von Franz Waxman.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Evelyn Pearl Family, AR 6292

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Die Macht der Hoffnung

Ein bloßes Versprechen gibt neue Hoffnung

„Niemand, der die Umstände nicht kennt, kann sich vorstellen, in welch trostloser Verfassung wir in den letzten Monaten waren und wie verändert wir nun sind, nach Ihrem freundlichen Brief. Wir sind voller neuer Lebenskraft, Mut und Bereitschaft, zu arbeiten - und all das ist Ihnen zu verdanken.“

Wien/Brooklyn

In Abwesenheit näherer Verwandter in Amerika blieb Familie Metzger in Wien nichts anderes übrig, als einen Cousin 2. Grades, Rechtsanwalt Leo Klauber in Brooklyn, um Hilfe zu bitten. Herr Klauber war nicht imstande, seinen österreichischen Verwandten selbst Bürgschaften zu beschaffen, versprach aber, sich um sie zu bemühen. In Eva Metzger-Hohensteins Antwort auf sein Versprechen vom 1. November 1938 ist das Ausmaß ihrer Erleichterung deutlich spürbar: Nach Monaten der Angst und der Verzweiflung fühlten sich die Metzgers Dank ihres Cousins durch die realistische Aussicht auf Emigration neu belebt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Korrespondanz zwischen Laura und Leonard Yaffe, AR 11921

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Source available in English

Abschied im Schatten der Politik

In seinem Tagebuch beschäftigt sich Adolph Markus politischen Veränderungen und mit seinen Vorbereitungen zur Auswanderung

„Chamberlain und Daladier erklärten nach ihrer Rückkehr zu ihren Völkern, dass nun für lange Zeit gesichert ist und das mit Hitler vereinbart wurde, bei jeder eventuell noch kommenden Differenz wieder zu einer Konferenz zusammen zu treten.“

LINZ

Ende Oktober 1938 blickt Adolph Markus auf einen ereignisreichen Monat zurück: Nach der Münchener Konferenz, auf der Repräsentanten aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien beschlossen, die Tschechoslowakei habe ihre Grenzgebiete (Sudetenland) im Austausch für Frieden an Deutschland abzutreten, hatten deutsche Soldaten diese Gebiete besetzt, in der eine beträchtliche deutsche Minderheit von etwa 3 Millionen Menschen lebte. Wie Markus erklärt, hatte die Tschechoslowakei mit dem Sudetenland ihre Abwehrlinie verloren. Laut seinem Tagebucheintrag vom 31. Oktober wich die Erleichterung der Menschen in England und Frankreich über den verhinderten Krieg bald tiefem Misstrauen bezüglich Hitlers wahrer Absichten. Was seine persönlichen Angelegenheiten betrifft, so erwähnt der Verfasser einen Friseur-Lehrgang und Englisch-Unterricht, den er in Wien nimmt, offensichtlich in Vorbereitung auf die Auswanderung. In der Zwischenzeit war in Erwartung dessen, dass in Kürze alle Juden aus seiner Heimatstadt Linz ausgewiesen würden, die Hälfte des Inhalts seiner Wohnung verkauft worden.

Seine Mutter zu retten

Die Bemühungen eines verzweifelten Sohnes

„Ich möchte meine Mutter nach Amerika bringen und kann nicht warten, bis die Einwanderungsquote wieder geöffnet wird. Ohne Zweifel ist Ihnen bekannt, dass die Einwanderung aus Deutschland aufgrund der ausgeschöpften Quote angehalten worden ist. Laut meinen Informationen gibt es eine Wartezeit von etwa einem Jahr.“

CLEVELAND, OHIO/WASHINGTON D.C.

Dank der Vermittlung William E. Dodds, Botschafter der Vereinigten Staaten in Deutschland von 1933 bis 1937, war es Erich M. Lipmann 1936 gelungen, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Als der 26jährige diesen leidenschaftlichen Appell an Dodd richtete, seiner Mutter Martha Lipmann zu helfen, Deutschland zu verlassen und zu ihm nach Cleveland zu kommen, hatte er bereits zwei Jahre in den Staaten zugebracht. Der hier gezeigte Brief ist nur einer in einer langen Reihe zunehmend verzweifelter Versuche Lipmanns, seine Mutter zu retten. Jahrelang wandte er sich unermüdlich an alle in Frage kommenden Stellen, um Hilfe zu bekommen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Martha Lipmann, AR 6355

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

China als Fluchtziel

Das Schiff SS Conte Verde bringt Juden nach China

Triest/Schanghai

In den ersten Jahren des Nazi-Regimes hatten die Juden überwiegend in benachbarten europäischen Ländern, aber auch in Palästina und den Vereinigten Staaten Zuflucht gesucht. Als sich der Zugriff der Nazis ausweitete und Einwanderungsmöglichkeiten schwanden, wurde China zunehmend zu einem Zielort von Juden auf der Flucht. Die SS Conte Verde war eines der Dampfschiffe, die von den italienischen Häfen Genua und Triest aus Flüchtlinge nach Schanghai brachten. Die Seereise nach China dauerte einen Monat und war sehr kostspielig – eine Herausforderung für deutsche Juden, deren materielle Situation unter den Nazis erheblich erodiert worden war.

Ein Freudenfest in schweren Zeiten

Eine Hochzeit als Atempause

„Für diesen von Gott geweihten Ehebund erflehen wir Heil, Frieden und Segen.“

BERLIN

In einem Jahr, das durch zahlreiche beunruhigende anti-jüdische Maßnahmen gezeichnet war, muss die Hochzeit von Frieda Ascher und Bernhard Rosenberg am 23. Oktober in Berlin für ihre Freunde und Verwandten eine stark benötigte Atempause bedeutet haben. Der Offiziant bei der Zeremonie war der orthodoxe Rabbiner Dr. Moritz Freier. Rabbiner Freier wurde wiederholt von jungen Juden angesprochen, die infolge des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland keine Stelle finden konnten. Seine Frau, Recha Freier, war bereits im Januar 1933 auf die Idee gekommen, jüdischen Jugendlichen zu helfen, in das palästinensische Mandatsgebiet einzuwandern und sich in Kibbutzim anzusiedeln, ein Projekt, das unter dem Namen „Jugend-Alija“ bekannt ist.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Trauurkunde für Bernhard Rosenberg und Frieda Ascher; 7.5

Widerstand von Juden im Exil

In the United States, Toni Sender warns of the dangers of National Socialism

BERLIN

Toni Sender ist seit 1920 SPD-Reichstagsabgeordnete in der Weimarer Republik. Sie bezieht bereits früh Stellung gegen den Nationalsozialismus und warnt vor den Gefahren für die Demokratie. Weil sie als Sozialdemokratin und Jüdin von den Nationalsozialisten angefeindet und bedroht wird, flüchtet sie im März 1933 erst in die Tschechoslowakei, dann nach Belgien, wo sie ihren Kampf gegen das NS-Regime im Exil fortsetzt. 1935 emigriert sie in die USA. Als Rednerin und Journalistin versucht sie auch dort, das Ausland über den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus aufzuklären. Wie das Schreiben der Gestapo an den Ermittlungsrichter des Volksgerichtshofs vom 22. Oktober 1938 belegt, bleibt ihr Widerstand nicht unbemerkt.

QUELLE

Institution:

Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Original:

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde; R3018 NJ-15413

Looking toward Palestine

The Münzer family hopes for a reunion in Palestine

After Moses Münzer loses his job as a tailor, his wife, Lisa, is forced to work in a soup kitchen. Now the family hopes for a future in Palestine.

WIEN

This photograph, taken in October 1938, shows Moses Münzer, a tailor in Vienna, and his wife Lisa, with their five children, Elfriede, Benno, Nelly, Gertrude and Siegfried. After the “Anschluss,” Moses Münzer, like many Jews, lost his job. Lisa Münzer started working as a cook in the soup kitchen of the Brigittenauer Tempel on Kluckygasse, sometimes assisted by her children. By October 21st, 15-year-old Gertrude was on her way to Palestine on Youth Aliyah, an organization founded by Recha Freier, the wife of an orthodox rabbi in Berlin, before the Nazi rise to power. Its goal was to help Jewish youth escape anti-Semitism in the Reich and settle in Palestine. Gertrude left on her own, but the intention was for the family to reunite in Palestine.

Fluch der Bürokratie

Warten auf ein "Kapitalistenzertifikat"

„Zur Zeit gibt es überhaupt keinen Vorzugs-Zertifikatstransfer. Auf dem letzten Vorzugstransfer sind im ganzen 27 Familien nach Palästina hereingekommen. Eine neue Transfertranche soll im Winter aufgelegt werden, aber man wird nicht damit rechnen können, dass Ledige dabei irgendwie berücksichtigt werden können, insbesondere, wenn sie sich schon im Ausland aufhalten.“

Konstanz/Zürich

Nach seinem Studium in Deutschland war Dr. Herbert Mansbach, ein junger Zahnarzt aus Mannheim, in die Schweiz gegangen, um zu promovieren und sich auf Kieferorthopädie zu spezialisieren. Dies, so glaubte er, war eine gesuchte Fähigkeit in Palästina, wohin er auszuwandern hoffte. Die Einwanderung nach Palästina war jedoch durch die Briten erheblichen Einschränkungen unterworfen: Dr. Mansbachs Freund Alfred Rothschild, ein Justizrat im Ruhestand, teilte ihm mit, es seien zur Zeit keine Vorzugs-Einwanderungszertifikate zu haben und das Zulassungsverfahren für ein „Kapitalistenzertifikat“ (eine Art von Zertifikat, dessen Vergabe davon abhängig war, ob der Antragsteller den Besitz von mindestens £1000 nachweisen konnte und keiner Quotierung unterlag) liefe noch. Die Angelegenheit war sehr dringend, denn Mitte Oktober war Dr. Mansbachs Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz abgelaufen. Rothschild rechnete damit, dass falls der Antrag auf ein gewöhnliches Zertifikat erfolgreich sein würde, die Schweizer Behörden seinem Freund gestatten würden, einstweilen im Land zu bleiben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Joseph Mansbach, AR 7073

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Neues Unternehmen, altes Netzwerk

Was bedeutet Auswanderung für einen Unternehmer?

„Erlauben Sie mir im Bezug auf meine Bürgschaft noch auszuführen, dass ich mein jährliches Einkommen nicht angegeben habe, weil die Hochhauser Leather Co Inc. erst vor kurzer Zeit gegründet wurde.“

NEW YORK/WIEN

In Wien war Hans Hochhauser gemeinsam mit seinem Bruder erfolgreicher Inhaber eines Ledermanufaktur- und Exportunternehmens gewesen. Doch bereits einen Tag nach dem „Anschluss“ hatte er alle Zelte abgebrochen und war mit seiner Frau Greta und seiner Tochter Ilse auf abenteuerlichem Wege aus Österreich geflohen: abgewiesen an der tschechischen Grenze, gelangte die Familie mit dem Zug in die Schweiz und von dort mit einem gecharterten Flugzeug nach England, von wo aus sie schließlich ihren Weg in die Vereinigten Staaten fand. In New York angekommen, musste Hans Hochhauser von vorn beginnen: seine neue Firma hieß „Hochhauser Leather Co Inc.“ In einem Schreiben an das amerikanische Generalkonsulat in Wien vom 14. Oktober 1938, mit dem er eine Bürgschaft für seinen Cousin Arthur Plowitz übermittelte, wies er darauf hin, dass er mit seiner neuen Firma zwar noch am Anfang stehe, aber auf große Teile seines alten Handelsnetzwerks zurückgreifen könne.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Hans und Grete Hochhauser, AR 12070

Original:

Archivbox 1, Ordner 4

Schwindende Fluchtwege

Geschlossene Grenzen, Ausweisungen

„Premierminister Jan Syrovy hat den Antrag zurückgewiesen, den Regierungsentscheid, Flüchtlinge aus Österreich zu deportieren, zu lockern.“

Prag

Seit dem „Anschluss“ hatte die Tschechoslowakei ihre Politik gegenüber Flüchtlingen aus Österreich, insbesondere gegenüber jüdischen, enorm verschärft. Die offiziellen Grenzübergänge waren österreichischen Juden verschlossen – viele waren gezwungen, ihren Weg in die Tschechoslowakei auf gefährlichen Pfaden über die Grüne Grenze zu bestreiten. Auch internationale diplomatische Interventionen, wie die der Liga der Menschenrechte, über die die Jewish Telegraphic Agency am 13. Oktober 1938 berichtete, konnten die Tschechoslowakei nicht von ihrem restriktiven Kurs abbringen. Sir Neill Malcolm, der Flüchtlingskommissar der Liga, hatte den tschechoslowakischen Premierminister dazu aufgerufen, die Praxis der Abschiebung österreichischer Flüchtlinge zu überdenken. Ohne Erfolg.

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

„Czechs Refuse to Relax Policy on Refugees“

Source available in English

Driven to suicide

Suicide of a democratically-minded editor-in-chief

.

PRAGUE

Since 1876, the Prager Tagblatt was known as a bastion of liberal- democratic positions. Over time, it acquired a staff of first-rate writers, including greats such as Franz Kafka, Max Brod, Kurt Tucholsky, Egon Erwin Kisch and Alfred Döblin – to name but a few. The paper was valued for its excellent reporting, its outstanding feuilleton and its unique style: even the political reporting was not devoid of humor. As a liberal-democratic paper with a predominantly Jewish staff, the Tagblatt had unequivocally positioned itself against the Nazi regime. Several of the roughly 20,000 political adversaries of the Nazis who had escaped to Czechoslovakia joined the ranks of the publication’s contributors. After the entry of the German Army to the Sudetenland in early October of 1938, the situation of German-speaking democrats came to a head in Czechoslovakia, too: according to this report from the Jewish Telegraphic Agency, dated October 11, the editor-in-chief of the Prager Tagblatt, Rudolf Thomas, and his wife committed suicide out of despair over the situation.

 

QUELLE

Institution:

Jewish Telegraphic Agency

Sammlung:

"Praha Jewish Editor Dies After Suicide Pact with Wife"

Original:

Box 3, folder 35

Zurückgewiesen

Keine Einreisegenehmigung für Anneliese Riess

GENF/TURIN

Eigentlich war Anneliese Riess Archäologin. Doch nach ihrer Promotion in Rom im November 1936 hatte sie als Ausländerin keine Chance, in ihrem Traumberuf angestellt zu werden. 1937 absolvierte sie daher in Genf einen Kurs als Kinderschwester und kehrte dann nach Rom zurück. Als die faschistische Regierung in Italien im Herbst 1938 ausländische Juden aufforderte, innerhalb eines halben Jahres das Land zu verlassen, erklärte sich die Schwesternschule in Genf bereit, Anneliese bis zur Ankunft ihres Visums für die Vereinigten Staaten als Praktikantin aufzunehmen. Aufgrund der fremdenfeindlichen und antisemitischen Einwanderungspolitik der Schweiz verweigerte man der jungen Frau jedoch die Einreise. In einem Brief der Schule vom 10. Oktober wurde ihr mitgeteilt, Fälle dieser Art seien unter den Schülerinnen derartig häufig, dass sich die Leiterin der Schule, Frl. Borsinger, ihr nicht zu einer Aufenthaltsgenehmigung verhelfen könne. Sie habe aber ein Schreiben an das Konsulat beigelegt, das bestätige, Anneliese Riess werde dringend in der Krankenpflegeschule erwartet – allerdings als Schülerin. Dies, so schrieb man, sei die einzige Möglichkeit für sie, ins Land gelassen zu werden.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Annelise Riess, AR 10019

Original:

Archivbox 1, Ordner 10

Antisemitismus auch in Italien

antisemitismus-auch-in-italien

„Die Ehe zwischen ,arischen‘ Italienern und Mitgliedern der hamitischen (nordafrikanischen), semitischen oder anderen ,nicht arischen‘ Rassen war verboten.“

Rom

Der faschistische Großrat Italiens – ein zentrales Organ des Mussolini-Regimes – veröffentlichte Anfang Oktober eine „Erklärung über die Rasse“, die an vielen Stellen an die Nürnberger Gesetze erinnert. Durch und durch antisemitisch, legte die Schrift zahlreiche Regelungen zur Ehe, zur italienischen Staatsbürgerschaft und zur Tätigkeit von Juden im italienischen Staatsdienst fest. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 9. Oktober, nur wenige Tage nach seiner Veröffentlichung, über das faschistische Regelwerk. Fortan sollten „Mischehen“ zwischen „arischen“ Italienern und „Mitgliedern der hamitischen (nordafrikanischen), semitischen oder anderen „nicht arischen“ Rassen“ verboten sein. Eine weitere Regel traf besonders auch diejenigen Juden hart, die aus Österreich und Deutschland nach Italien emigriert waren: Alle Juden, die sich nach 1919 in Italien niedergelassen hatten, sollten die italienische Staatsbürgerschaft verlieren und ausgewiesen werden.

 

 

11 Kisten Besitz

Der Hausrat wird verschifft

Amtl. Hausbeschaugebühr und SS. Überwachungskommission drei 1/2 Tage: RM 75

WIEN

Ihren Visums-Antrag hatten der Zahnarzt Max Isidor Mahl und seine Frau Etta, eine Textilarbeiterin, schon vor einigen Monaten beim amerikanischen Konsulat in Wien eingereicht. Seitdem warteten Sie. Etta war gebürtige Polin, Max Isidor gebürtiger Ukrainer, und die amerikanischen Einwanderungsquoten für diese beiden Länder waren bereits gefüllt. Doch die Zeit drängte: diese Rechnung zeigt, dass die Mahls bereits in Oktober ihren kompletten Haushalt in die Vereinigten Staaten verschiffen ließen und damit in Sicherheit bringen wollten. Der Transport von Wien nach Hamburg und dann mit einem Frachter nach New York war eine teure Angelegenheit: Fast 800 Reichsmark kostete es das Ehepaar Mahl, die 11 Kisten mit ihrem Hausrat außer Landes bringen zu lassen.

 

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Lucie Blau Familie, AR 25419

Original:

Archivbox 1, Ordner 15

Au revoir Paris?

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

„Es ist mir unerhört wichtig, dass er mir die Erlaubnis gibt noch zehn Kameraden nach Mexiko hereinzubringen.“

Paris/Mexiko

Der Brief, den Joseph Roth an seinen Vetter Michael Grübel in Mexiko schickt, ist kurz. Zwar in vertrautem Ton, ansonsten aber auf die wichtigsten organisatorischen Angelegenheiten beschränkt, dankt Roth ihm für die Vermittlung eines Kontaktes zu einem Herrn Dor. Com. Silvio Pizzarello de Helmsburg. Dieser soll Roth dabei helfen, „zehn Kameraden nach Mexiko hereinzubringen.“ Wen genau Roth hier im Blick hat, bleibt offen. Außerdem bittet Roth seinen Vetter, sich auch um eine Einreisebewilligung für ihn selbst zu bemühen. 1933 war der berühmte Schriftsteller und Journalist nach Paris emigiert. Von dort aus hatte er seither zahlreiche Novellen und Essays veröffentlicht und für die Emigrantenpresse in verschiedenen Ländern geschrieben. Nun aber schien auch Roth mit dem Gedanken zu spielen, Europa zu verlassen.

 

 

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Joseph Bornstein, AR 4082

Original:

Archivbox 2, Ordner 4

“America First!”

Nach vorne schauen und nicht zurück

Aber Freiheit und Recht werden uns nicht geschenkt, wir haben auch hier für sie zu arbeiten und zu kämpfen!

New York

Das Editorial der Oktober-Ausgabe des Aufbau verfolgt ein klares Ziel: die Leserinnen und Leser daran zu erinnern, dass sie „nunmehr Amerikaner sind mit allen Rechten, aber auch mit allen Pflichten.“ Bindungen vornehmlich familiärer und kultureller Art werden anerkannt, gleichzeitig aber betont, wie wichtig es sei, den Blick in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit zu richten. „America First!“ lautete das Motto, das als Aufruf zur Integration der jüdischen Emigranten in die amerikanische Gesellschaft verstanden werden kann. Der Autor des Editorials liefert seinen Lesern dafür auch Argumente: Europa könne ihnen fundamentale Werte wie Freiheit und Recht nicht mehr garantieren. In den Vereinigten Staaten mit ihrer „Bill of Rights“ hingegen lohne es sich, für diese Werte einzustehen und zu kämpfen. Der Jewish Club als Herausgeber des Aufbau positionierte sich somit klar innerhalb der amerikanischen Gesellschaft – und erwartete diese Haltung auch von seinen Lesern und Mitgliedern.

Geschlossene Türen

Kanadas restriktive Einwanderungspolitik

Hilfe für die Opfer "politischer Verfolgung und grundloser Aggression" wird ein wichtiger Bestandteil der "Friedens-Aktionswoche" sein [...]

Ottawa

Ein wichtiges Ziel der von der Canadian League of Nations Society geplanten „Nationalen Friedens-Aktionswoche“ war, die kanadische Öffentlichkeit auf das Leiden verfolgter Juden aufmerksam machen. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete am 3. Oktober 1938 von dem Vorhaben, ein nationales Komittee aus jüdischen und anderen kanadischen Führungspersönlichkeiten zu gründen, das die Öffentlichkeit für die jüdische Flüchtilingskrise sensibilisieren und angemessene Maßnahmen von der Regierung verlangen sollte. Spätestens seit den Jahren der Weltwirtschaftskrise nämlich verfolgte Kanada eine restriktive Abschottungspolitik gegenüber Einwanderern, eine eigentliche Flüchtlingspolitik hatte das Land nicht. Allein dies machte es jüdischen Flüchtlingen schwer, nach Kanada einzuwandern. Hinzu kam ein weit verbreiteter Antisemitismus in der Bevölkerung.

 

Umwälzungen erreichen Wohnung und Arbeitsplatz

Suche nach Wohnung und Arbeit

„Jetzt stell dir vor, zu all diesem Elend noch die Aussicht auf meine ,großen Ferien,‘ für mich als Muttels Ernährerin. Da kam gestern ein Lichtblick, ich habe vom Landesverband in Berlin die Erlaubnis engl. Unterrichts-Kurse in der Provinz abzuhalten.“

BRESLAU/BERLIN

Im August 1938 begann Irma Umlaufs Leben, aus den Fugen zu geraten: man benachrichtigte sie, dass die in jüdischen Händen befindliche Firma in Breslau, für die sie arbeitete, liquidiert und sie in die Arbeitslosigkeit entlassen werden sollte, und ihr Vermieter kündigte ihr. Obwohl es im Oktober 1938 kein Gesetz gab, laut dem Nichtjuden keine jüdischen Mieter haben durften, waren manche eifrig dabei, sich ihrer zu entledigen. In Irma Umlaufs Fall war das Problem, dass ihre jüdischen Mitbewohner die Miete nicht länger aufbringen konnten und auszogen. Der nichtjüdische Vermieter fürchtete sich nun laut Irma, neue jüdische Mieter anzunehmen, und da Juden und Nichtjuden nicht länger gemeinsamen Wohnraum teilen durften, hatte sie keine Wahl als auszuziehen. Unter den anderen Themen, die sie in diesem Brief an ihre Freundin Hilde Liepelt in Berlin anschneidet, ist ihre berufliche Situation: glücklicherweise hat ihr der Landesverband in Berlin Erlaubnis erteilt, in den jüdischen Gemeinden Münsterberg und Fraustadt, beide nicht zu weit von Breslau entfernt, Sprachunterricht zu erteilen, wodurch sie eine neue Existenzgrundlage erhält und weiter für den Unterhalt ihrer Mutter sorgen kann. Ein Zubrot verdient sie sich als Sängerin.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Brief von Irma Umlauf, Breslau, an ihre Freundin Hilde Liepelt in Berlin; 7.379, Bl. 14

Entfernt verwandt

FREITAG

„Ich appelliere an Ihre Menschlichkeit und Ihren Sinn für Blutsverwandtschaft, wenn ich mir die Freiheit nehme, Sie zu bitten, mir bei meiner Immigration in die Staaten zu helfen und mir die notwendige Bürgschaft auszustellen.“

Wien/New York

Es muss Überwindung gekostet haben: Eva Metzger-Hohenberg schrieb dem entfernten Verwandten, aber ihr eigentlich völlig unbekannten Leo Klauber in Manhattan einen flehenden Brief. Ihre Lage sei prekär, für Juden sei in Deutschland kein Platz mehr. Maria Metzger-Hohenberg appellierte an Leo Klaubers „Menschlichkeit“ und seinen „Sinn für Blutsverwandtschaft“ und bat ihn, ihr und ihrer Familie Bürgschaften auszustellen. Dieser Brief aus Wien zeigt nicht nur, welche verzweifelten Maßnahmen manche jüdische Familien ergreifen mussten, um ihre Auswanderung zu ermöglichen. Er zeichnet auch ein lebendiges Bild von der Situation, in der sich viele Juden im Herbst 1938 befanden. Marias Eltern und ihr Bruder hatten ihr Fleisch-Geschäft aufgeben müssen. Der Großhandel ihres Ehemanns, der mehr als 140 Mitarbeiter beschäftigte, wurde „arisiert“. Faktisch bedeutete dies, dass er weit unter Wert verkauft werden musste. Das Schicksal der Metzger-Hohenbergs steht exemplarisch für das unzähliger jüdischer Familien in dieser Zeit.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Laura und Leonard Yaffe Korrespondenze, AR 11921

Original:

Archivbox 2, Ordner 3

Source available in English

“Zum letzten Mal”

Eine Bar Mizwa wird zum Abschied

Und sie feierten trotzdem. Viele der Familien, die in diesem September die Bar Mizwa ihrer Söhne begingen, würden nicht mehr lange in Berlin sein. An diesem Tag kommen sie aber alle nochmal in der Synagoge zusammen.

BERLIN

Mehr ein wehmütiger Abschied als eine freudvolle Bar Mizwa: Rabbi Manfred Swarsensky schien sich der Lage seiner Gemeindemitglieder an der Berliner Synagoge Prinzregentenstraße vollends bewusst zu sein. In seiner Ansprache zur Bar Mizwa von 15 Jugendlichen fing er die Stimmung an diesem Festtag in einem eindrücklichen Bild ein: Alles trage gerade „den Stempel auf sich ‚Zum letzten Mal‘.“ Viele Familien, deren Söhne an diesem Tag ihre Bar Mizwa feierten, säßen bereits auf gepackten Koffern. Für eine Familie gehe es sogar schon am darauffolgenden Tag los. Die Synagoge im Berliner Stadtteil Wilmersdorf war der einzige Synagogenneubau im Berlin der Weimarer Republik gewesen. Schnell hatte sie sich auch zu einem jüdischen Kulturzentrum entwickelt. Nun, im ausgehenden September 1938, war dem Rabbi klar, dass seine Gemeinde vor großen Veränderungen stehe: „Wenige Jahre noch, und vieles von dem, was heute noch war, wird vergangen und vielleicht auch vergessen sein.“

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gerhard Walter, AR 11826

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Paragraphen, Paragraphen

Vorherige mündliche und schriftliche Anfragen und Gesuche sind zwecklos.

Vorherige mündliche und schriftliche Anfragen und Gesuche sind zwecklos.

WIEN

Das Leben vieler Juden in Österreich war innerhalb eines halben Jahres aus den Angeln gehoben worden. Berufsverbote, Arisierung, Enteignungen oder der Entzug der Staatsbürgerschaft. Nach dem „Anschluss“ fanden sich viele österreichische Juden in unsicheren und chaotischen Zuständen wieder. Umso zynischer mag es vielen von ihnen erschienen sein, mit einer komplizierten, teils pedantischen Visums-Bürokratie konfrontiert zu werden. Ein Schreiben vom 27. September 1938 des amerikanischen Generalkonsulates an Tony (Antonie) und Kurt Frenkl verdeutlicht dies: Ihr Visums-Antrag könne frühestens in Monaten entgegengenommen werden. Die Quoten für mitteleuropäische Einwanderer seien erschöpft. Um auf eine Warteliste für Visen gesetzt zu werden, mussten die Antragsteller einen Vormerkbogen ausfüllen. Und um „Verzögerungen zu vermeiden“, solle jeweils pro Person eine Bürgschaft eingereicht werden. Tony und Kurt mussten also weiter warten – und sich auf die nächsten bürokratischen Hürden gefasst machen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Tony Frenkl, AR 11032

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Jahreschronik 1938

Berufsverbot für jüdische Rechtsanwälte

Diese antisemitische Karikatur zeigt einen jüdischen Anwalt der deutsche Bauern um Geld und Güter betrügt. Elvira Bauer, Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud auf seinem Eid (Nuremberg: Stürmer Verlag, 1936). Leo Baeck Institute.

Die berufliche und finanzielle Situation für jüdische Anwälte und Juden, die in anderen rechtlichen Berufen tätig waren, verschlechtert sich zusehends. Viele von ihnen sind gezwungen, ihre Anwaltskanzleien zu schliessen, da sich ihre Klienten abwenden oder, wenn sie jüdisch sind, fliehen. Zu Beginn des Jahres 1938 arbeiteten noch rund 1750 „nichtarische“ Rechtsgelehrte in Deutschland. Am 27. September verhängen die Nazis ein Berufsverbot für alle noch praktizierenden jüdischen Anwälte. Das Verbot tritt am 30. November in Kraft, in Österreich am 31. Dezember. Von nun an sind nur noch einige wenige jüdische Rechtsanwälte aktiv. Als sogenannte Konsulenten konnten sie – ausschliesslich jüdische – Klienten beraten und vertreten.

Zur Jahreschronik 1938

„Wir wandern aus.“

Ein neues Jahr, ein neuer Start

HAMBURG

Ob sich die Schwestern Helen und Eva Hesse irgendwann noch an das diesjährige Rosch Haschana erinnern würden können? Für ihre Eltern Wilhelm und Ruth Hesse jedenfalls war das Neujahrsfest 1938 eine Zäsur. Die Familie hatte die Entscheidung gefasst, aus Hamburg auszuwandern. Helen war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt, ihre kleine Schwester Eva gerade einmal zwei. Ihr Vater führte in dieser Zeit ein Tagebuch für seine beiden Töchter. Den Eintrag zu Rosch Haschana 5699 überschrieb er mit großen, gedruckten Lettern: „Wir wandern aus”, das „Motiv” des diesjährigen Neujahrsfestes, wie Wilhelm handschriftlich ergänzte. Seine Töchter sollten bis dahin allerdings möglichst sorgenfrei leben. Dass es ihren Eltern ganz anders ging, wird zum Ende des Tagesbucheintrages klar. Dort schrieb Wilhelm Hesse: „Später werden sie sich mal wundern, was ihre Eltern in diesen Zeiten alles ertragen mussten. Wir wandern aus.”

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Helen und Eva Hesse Familie, AR 25327

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Verlassene Synagogen

Gleiwitzer Gemeinden spüren Folgen der Auswanderung

„Viele kleinere, zu unserem Verband gehörende Gemeinden sind völlig verwaist. Wie müssen uns mit ihrer Auflösung befassen. Ehrwürdige Gotteshäuser müssen ihrer Bestimmung entzogen und verkauft werden.“ [aus der Neujahresansprache des Synagogengemeindeverbandes für Oberschlesien]

GLIWICE

Zu Rosch Haschana wünschte sich Arthur Kochmann für den Synagogenverband für Oberschlesien zweierlei: Dass sich im neuen Jahr die Wünsche eines jeden Gemeindemitglieds erfüllen mögen, aber auch, dass die Juden in Oberschlesien „die innere Geschlossenheit jederzeit erhalten.“ Zwei Wünsche, die sich im Herbst 1938 leider oftmals widersprechen mussten. Die Zahl der Auswanderer aus Gleiwitz war in den vergangenen Monaten extrem gestiegen. Arthur Kochmann verweist auf die dramatischen Folgen für viele kleinere Synagogen in und um Gleiwitz: Viele müssten geschlossen und verkauft werden. Lange noch hatte ein Minderheitenschutz aus dem Jahr 1922 viele Juden in Gleiwitz vor offiziellen antisemitischen Gesetzen der Nazis geschützt, mit seinem Auslaufen 1937 aber war es mit der Gnadenfrist vorbei.

QUELLE

Institution:

The United States Holocaust Memorial Museum

Original:

Auf Deine Hilfe hoffe ich, Gott, in: Jüdisches Gemeindeblatt, vol. 3, no. 18, p. 1. Courtesy of USHMM

Netzwerke

Kurt Grossmann und die Flüchtlingshilfe

„Wenn in den nächsten Tagen Ihnen ein Gesuch von Frau Erna Winter (und Kind), die bisher von der Demokratischen Flüchtlingsfürsorge in Prag unterstützt wurde, vorgelegt werden sollte, so bitte ich Sie, dieses Gesuch mit Wohlwollen zu behandeln.“

PARIS

Die jüdischen Flüchtlingsorganisation waren weit vernetzt. Zu verdanken war das auch einzelnen Personen wie Kurt Grossmann, die stetig neue Kontakte knüpften und die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene ausbauten. Kurt Grossmann, Journalist und von 1926 bis 1933 Generalsekretär der Deutschen Liga für Menschenrechte, war bereits 1933 vor einer Verhaftung aus Berlin nach Prag geflohen. Dort hatte er die Demokratische Flüchtlingsfürsorge mit aufgebaut und diese maßgeblich geprägt. Grossmann wusste sein Netzwerk für die steigende Zahl jüdischer Flüchtlinge, die Prag erreichten, zu nutzen. Noch aus Paris, wo er seit 1938 lebte, warb er bei den lokalen Hilfsorganisationen um Unterstützung. In einem Brief Grossmanns vom 19. September 1938 etwa bittet er M. Gaston Kahn vom Pariser Comité d’Assistance aux Réfugiés juifs mit Nachdruck, Erna Winter und ihrem Kind zu helfen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Kurt Grossmann, AR 25032

Original:

Archivbox 1, Ordner 8

Vom Schwur, niemandem zu schaden

Ein jüdischer Arzt sorgt sich wegen beruflicher Konsequenzen der Nazi-Gesetze

„Mir geht in diesen Wochen oft ein lateinischer Vers des Horaz durch den Kopf, der in deutscher Übertragung etwa so lautet: Und wenn die Welt zusammenstürzt, wird sie einen unerschütterten Mann erschlagen.“

KÖLN

Erstaunlich viele deutsche Ärzte hatten anscheinend nicht nur keine Skrupel, sich durch das Nazi-Regime vereinnahmen zu lassen, sondern unterstützten aktiv dessen rassistische und eugenische Grundsätze, wobei sie bequem außer Acht ließen, dass sie doch vorgeblich dem Hippokratischen Eid mit seiner Forderung, keinen Schaden zuzufügen, verpflichtet waren. Nicht genug damit, dass sie eine Ideologie verbreiteten, die Juden zu einer „Gefahr für die deutsche Rasse“ erklärte, schlossen medizinische Organisationen in Deutschland Juden aus und machten es ihnen zunehmend schwerer, ihren Unterhalt zu verdienen. Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass Dr. Max Schönenberg, ein Kölner Arzt, und seine Frau Erna, eine Musikerin, die Auswanderung ihres Sohnes Leopold 1937 nach Palästina unterstützt hatten, obwohl der Junge zu dem Zeitpunkt erst 15 Jahre alt war. In diesem Brief an seinen Sohn vom 18. September 1938 spricht Dr. Schönenberg verschiedene gewichtige Themen an, darunter die gerade erfolgte Entscheidung des Regimes, jüdischen Ärzten die Approbation zu entziehen und seine Ungewissheit hinsichtlich seiner beruflichen Zukunft (manche jüdischen Ärzte erhielten Erlaubnis, jüdische Patienten zu behandeln).

QUELLE

Institution:

NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Original:

Best. 46

Zum Nazi erzogen

Erika Manns Buch über das NS-Bildungsystem

NEW YORK

Erika Mann eröffnet ihr Buch mit einer fesselnden Beschreibung. Sie erzählt von einem Treffen mit einer Frau M. aus München. Zu dieser Zeit lebte Erika mit ihren Eltern Thomas und Katia Mann bereits im Exil. Frau M. möchte ebenfalls mit ihrer Familie emigrieren. Dieser Wunsch allerdings trifft auf Erika Manns Unverständnis, immerhin hätten Frau M. und ihre Familie als wohlhabende „Arier“ nichts zu befürchten. Dann aber spricht Frau M. einen entscheidenden Satz aus: „Ich möchte, dass mein Sohn ein anständiger Mensch wird, ein Mann und kein Nazi“ [„I want the boy to become a decent human being—a man and not a Nazi“]. Der Satz wird zum Ausgangspunkt von Erika Manns Studie über das nationalsozialitische Bildungs- und Indoktrinationssystem. Ihr viel beachtetes Buch erschien 1938 unter dem Titel „School for Barbarians. Education under the Nazis“ in den Vereinigten Staaten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Original:

Erika Mann, School for Barbarians; Education under the Nazis,New York: Modern Age Books, 1938 ; LA 721.8 M312

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