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Wartenummer

Helina Mayer ist auf Platz 9443 der Warteliste für einen Termin im US-amerikanischen Konsulat

„Sie sind unter der Nummer 9443 in der Warteliste der Visumantragsteller [sic] eingetragen und sollten jede Adresseänderung [sic] prompt mitteilen.“

Stuttgart

Juden waren bei Weitem nicht die einzigen „Unerwünschten“, die mit dem US-Einwanderungsgesetz von 1924 aus dem Land ferngehalten werden sollten. Zum Zeitpunkt der Einführung des Gesetzes waren bereits seit einem halben Jahrhundert Bemühungen im Gang, gewisse Nationalitäten auszuschließen, besonders Chinesen, Japaner und andere Asiaten. Anfang der zwanziger Jahre wurde ein Quotensystem eingeführt, das Einwanderer aus Nordeuropa begünstigte. Trotz der schweren Flüchtlingskrise, die durch die Verfolgung der Juden durch Nazi-Deutschland ausgelöst wurde, erfuhr das System in den dreißiger Jahren keine Anpassung an die dramatischen Umstände. Selbst für Angehörige der bevorzugten Ursprungsländer war die Erfüllung aller bürokratischen Voraussetzungen höchst beschwerlich, und das Warten konnte demoralisierend sein. Wie durch diese vom Generalkonsulat der Vereinigten Staaten in Stuttgart an Helina Mayer aus Mainz ausgestellte Karte dokumentiert, konnten die Antragsteller erwarten, gemäß ihrer Wartenummer zu einer Untersuchung vorgeladen zu werden, gesetzt den Fall, sie hatten „zufriedenstellende Beweise“ vorgelegt, dass ihr Lebensunterhalt in den Vereinigten Staaten gesichert sei.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Joan Salomon Familie, AR 25380

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Grüße und Küsse

Eine liebe Nachricht an Oma in Breslau

„Hoffentlich sind Deine Schmerzen schon besser geworden. Viele herzliche Grüße und Küsse und einen guten שבת [Schabbes], auch an Blumenthals, Dein Enkelkind Michael“

Oldenburg/Breslau

Nach Handschrift und Stil zu urteilen, war Michael Seidemann recht klein, als er seiner Großmutter Louise Seidemann in Breslau diese Postkarte schickte. Interessanterweise war die Adresse, von der aus er schrieb, identisch mit der der Synagoge des Orts, Oldenburg. Obwohl die ersten Zeugnisse jüdischer Präsenz in Oldenburg aus dem 14. Jahrhundert stammen, sollte es bis 1855 dauern, bis die Gemeinde ihre erste zu diesem Zweck erbaute Synagoge eröffnete. Im Zuge der Emanzipation begannen Juden, zum Handel der Stadt beizutragen, indem sie unter anderem Schuhe, Bücher, Fahrräder und Musikinstrumente verkauften, aber auch als Viehhändler und in der Landwirtschaft. Ihr Anteil an der Bevölkerung ging selten über 1% hinaus. Dennoch kam es schon in den zwanziger Jahren zu Angriffen antisemitischer Schläger auf jüdische Geschäfte. 1933 hatte die Stadt 279 jüdische Einwohner aus einer Gesamtbevölkerung von 66.951. Als Michael diese Postkarte schrieb, waren von Dutzenden jüdischer Geschäfte und Betriebe nur zwei übrig geblieben.

Wehrdienst

Seine jüdische Abstammung befreit Bruno Blum vom Wehrdienst

„Es wird bescheinigt, dass Herr Bruno Blum, geboren am 11. Aug. 1907 in Buczacz, laut den hieramts vorgelegten Urkunden Volljude ist.“

WIEN

Artikel 1 von §15 des Reichswehrgesetzes (verabschiedet am 21. Mai 1935) legte fest: „Arische Abstammung ist eine Voraussetzung für den aktiven Wehrdienst“. Nach der Gesetzesänderung des Jahres 1936 war die Ausdrucksweise noch klarer: „Ein Jude kann nicht aktiven Wehrdienst leisten“. Um Erlaubnis zu bekommen, das Land zu verlassen, mussten männliche Auswanderungsanwärter der örtlichen Militärbehörde ein Dokument vorlegen, das ihre jüdische Abstammung nachwies und damit bewies, dass sie sich durch Auswanderung nicht ihrer Wehrpflicht zu entziehen beabsichtigten. Im Rahmen der Formalitäten, die Bruno Blum zu erledigen hatte, um eine Auswanderungsgenehmigung zu erhalten, bestätigte am 4. August 1938 das Matrikelamt der Israelitischen Kultusgemeinde Wien seine jüdische Abstammung auf beiden Seiten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Blum Familie, AR 25132

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Nach sieben Tagen, Kanada

Anton Felix Perl erhält erzbischöfliche Hilfe

Stempel für zivile Begutachtung

Quebec

In den Augen der Nazis machte die Tatsache, dass die Eltern Anton Felix Perls zum Katholizismus übergetreten waren und er als Säugling getauft worden war, ihn nicht weniger jüdisch. Nach dem Besuch einer katholischen Schule in Wien, des Schottengymnasiums, studierte er Medizin und machte 1936 seinen Abschluss. Nach zwei Jahren als Assistenzarzt im Allgemeinen Krankenhaus wurde er aus „rassischen“ Gründen entlassen. In dieser spannungsreichen Situation trat Dr. Perl mit führenden katholischen Geistlichen in Kanada in Verbindung. Mit Hilfe der Erzbischöfe von Winnipeg und Regina wurde seine Einwanderung in die Wege geleitet. Nach einer sieben Tage langen Reise erreichte er Kanada und erhielt am 29. Juli 1938 den Stempel für zivile Begutachtung von den Einwanderungsbehörden in Quebec. Kanadas Einwanderungspolitik war extrem restriktiv, besonders gegenüber Menschen, die aus religiösen oder „rassischen“ Gründen verfolgt wurden. Diesmal erwies sich Dr. Perls Taufschein doch noch als hilfreich.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Perl Familie Sammlung, AR 25190

Original:

Archivox 1, Ordner 1

Die Abreise eines Gelehrten

Ismar Elbogen, ein großer Geschichtler des deutschen Judentums, verlässt sein Heimatland

„Professor Ismar Elbogen, ein bekannter jüdischer Gelehrter, bricht auf in die Vereinigten Staaten, um sich dort dauerhaft niederzulassen.“

BERLIN

Dank Jahrzehnten wissenschaftlicher Arbeit, besonders seiner grundlegenden Werke „Die Religionsanschauungen der Pharisäer“ (1904) und „Der Jüdische Gottesdienst in seiner Entwicklung“ (1913), war Prof. Ismar Elbogen international gut bekannt als er 1938 nach Jahren des Zögerns beschloss, auszuwandern. Seine Bemühungen als Vorsitzender des Erziehungsausschusses der Reichsvertretung der Juden in Deutschland waren durch das Regime erheblich behindert worden, und sein letztes in Deutschland veröffentlichtes Buch, „Die Geschichte der Juden in Deutschland“ (1935) war durch das Propagandaministerium massiv zensiert worden. In den zwanziger Jahren hatten ihm verschiedene Hochschulen in den Vereinigten Staaten (Jewish Institute of Religion, Hebrew Union College in Cincinnati; einen Ruf an die Columbia University hatte er abgelehnt) Lehraufträge erteilt, so dass er vielfältige Kontakte nach Übersee besaß, als die Zeit kam, Deutschland zu verlassen. In der heutigen Ausgabe informiert die Jewish Telegraphic Agency ihre Lehrer über die bevorstehende Abreise des Gelehrten.

Die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte

„Diese Hunde von Hitler und Göring werden niemals gewinnen“

„Es stirbt halt nicht der jüd. Wohltätigkeitssinn aus und es wird diesen Hunden von Hitler und Göring nicht gelingen, dass die Emigranten in der Gosse krepieren.“

Brünn/Rischon LeZion

Hugo Jellinek war ein vielseitig begabter Mann. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwang ihn, sein Medizinstudium abzubrechen. Als Soldat wurde er in Samarkand schwer verwundet und verliebte sich in die Krankenschwester, die ihn pflegte und später seine Frau und die Mutter seiner drei Töchter wurde. Das Paar siedelte sich in Taschkent (Usbekistan) an. Nach dem Tod seiner noch jungen Frau im Jahr 1926 floh er 1930 aus der Sowjetunion und kehrte schließlich nach Wien zurück. Dort machte er sich die acht Sprachen, die er beherrschte, als Übersetzer zunutze und arbeitete als freiberuflicher Jornalist. Dank einer Warnung bezüglich seiner bevorstehenden Festnahme gelang es ihm im Juni 1938, nach Brünn zu entkommen. Seine älteste Tochter Gisella Nadja brach am selben Tag nach Palästina auf. In diesem schillernden Brief zeigt Hugo väterliche Sorge um Nadjas Wohlbefinden, diskutiert aber auch ausführlich die eigenen Nöte als Flüchtling und vergisst nicht zu berichten, dass der Sohn seines Cousins im Konzentrationslager Dachau interniert sei. Mit Genugtuung erwähnt er die Arbeit der von ihm so genannten „Liga“ (gemeint ist wohl die Hilfsstelle der Liga für Menschenrechte), die sich um die Flüchtlinge kümmerte und damit Hitlers teuflischen Plänen trotzte. Letztendlich jedoch käme es vor allem darauf an, für einen eigenen Staat zu kämpfen.

Évian enttäuscht

Keine Zugeständnisse seitens der internationalen Gemeinschaft

„Wie immer sind wir Juden lediglich Objekte, nirgends gleichberechtigte Partner. Das festzustellen, ist am 34. Jahrzeittage Theodor Herzls besonders schmerzlich, aber die Tatsache, dass in Évian an 40 jüdische Organisationen als Zaungäste aufmarschiert waren, kennzeichnet zur Genüge, wie wenig auch wir Juden - sogar in den Fragen unserer eigenen Existenz als Volk - Fortschritte gemacht haben.“

Évian-les-Bains

Nach dem „Anschluss“ wurde das Problem der Flüchtlinge aus Deutschland noch dringender. Um das Thema in Angriff zu nehmen, rief US-Präsident Franklin D. Roosevelt zu einer internationalen Konferenz auf, die im Juli 1938 in Évian gehalten werden sollte. Die Konferenz wurde von der jüdischen Öffentlichkeit in Deutschland mit großen Hoffnungen erwartet, doch infolge der Weigerung der internationalen Gemeinschaft, die Einwanderungsquoten den tatsächlichen Bedürfnissen anzupassen, war der Effekt von Évian äußerst begrenzt. Dennoch versuchte das Jüdische Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen, positive Resultate zu präsentieren, indem es beispielsweise auf die Bereitschaft einiger südamerikanischer Länder hinwies, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Ungeachtet des spürbaren Versuchs, die Hoffnung nicht aufzugeben, zeugt der unterschwellige Ton dieses Leitartikels in der Ausgabe des Jüdischen Gemeindeblatts vom 23. Juli nicht von übermäßigem Optimismus.

Brot für Fremde

Ein Geschäftsmann vom Rhein sieht die USA als Ort der Großzügigkeit

„Unsere Hauptsorge bleibt der Hausverkauf, das Geschäft können wir zweimal verkaufen, oder auch auflösen. Darüber brauchen wir uns also weniger Gedanken zu machen.“

Neuwied am Rhein/New York

Ohne viel Drama schildert der Kaufmann Isidor Nassauer, wohnhaft in Neuwied am Rhein, der befreundeten Familie Moser, die bereits in Amerika ist, seine Situation: Unaufgefordert hat ihm sein Schwager eine Bürgschaft geschickt, die wegen einer fehlenden Unterschrift nicht verwendbar war und zurückgeschickt werden musste. Während er auf das unterschriebene Dokument wartet, nimmt er Englischstunden. Obwohl er keine Ahnung hat, wovon er in Amerika leben soll, erfüllt ihn die Tatsache, dass dort schon „so viel Brot für Fremde gebacken“ wurde, mit Zuversicht. Ein Grund zur Sorge ist für ihn jedoch der Verkauf des Hauses, während es leicht zu sein scheint, das Geschäft (eine Bürstenfabrik) zu verkaufen oder zu liquidieren. In der Regel waren Juden gezwungen, ihren Besitz weit unter Wert zu verkaufen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Betty and Morris Moser Sammlung, AR 25497

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Verhalten optimistisch

Reichsvertretung der Juden in Deutschland bewertet Évian-Konferenz

„Die Auswanderungspolitik der Reichsvertretung ist korrekt. Darüber hinaus macht die Stellungnahme deutlich, dass die Einrichtung eines internationalen Flüchtlingshilfswerks zu einer Zunahme und Beschleunigung der Auswanderung führen würde.“

Berlin

Laut Bericht der Jewish Telegraphic Agency an diesem Tag des Jahres 1938 veröffentlichte die Reichsvertretung der Juden in Deutschland fünf Tage nach Ende der Konferenz von Évian (6.-15. Juli) ihre erste Stellungnahme zu den Ergebnissen der Zusammenkunft in der Jüdischen Rundschau, dem Organ der zionistischen Bewegung. Die Organisation äußerte sich verhalten optimistisch. Sie prophezeite, das Internationale Flüchtlingskomitee, das während der Konferenz mit dem Ziel gegründet worden war, permanente Neuansiedlung voranzutreiben, werde positive Auswirkungen auf die Auswanderung haben.

Nichts geht mehr

Visa-Stopp am US-amerikanischen Konsulat in Berlin

Berlin

Am 19. Juli berichtet die Jewish Telegraphic Agency, dass das US-amerikanische Generalkonsulat in Berlin einen Annahmestopp für neue Visaanträge verhängt hat. Nach Angaben des Konsulats hatten sich zuletzt etwa 2000 Personen pro Monat für Visa beworben. Aufgrund der wachsenden Nachfrage entschloss sich das Konsulat nun dazu, zunächst die bereits anhängigen Anträge abzuarbeiten. Zwar gibt es eine Warteliste für neue Bewerber, die oft mühsam beschafften Bürgschaften und andere Dokumente, die sie sich bereits besorgt hatten, werden allerdings nicht mehr angenommen. All dies bedeutet, dass Juden, die ihre Ausreise aus Deutschland oder dem annektierten Österreich planen, in 1938 keine Chance mehr haben, sich um ein Visum zu bewerben. Es kann angenommen werden, dass die 60.000 bis 70.000 Bewerbungen, die am 19. Juli im Konsulat darauf warten, bearbeitet und beschieden zu werden, die jährliche Quote der USA von 27.370 Visas für Bewerber aus dem Deutschen Reich bereits bei Weitem überstieg.

Erfasst, gezählt, registriert

Erhebungen zu jüdischen Einwohnern im Landkreis Dillkreis

Dillenburg

Am 18. Juli verfasste der Landrat des hessischen Dillkreises einen Rundbrief an die Bürgermeister der Städte Herborn, Dillenburg und Haigern sowie die Gendarmerie-Beamten des Landkreises mit der Aufforderung, vierteljährlich eine Aufstellung der in der jeweiligen Gemeinde lebenden jüdischen Bevölkerung anzufertigen. Die Zählung in Herborn ergab, dass in der Stadt am 30. Juni 1938 51 Juden und Jüdinnen lebten und innerhalb der letzten drei Monate nur drei Personen ihre Heimat verlassen hatten. Diese auf lokaler Ebene ansetzende statistische Erfassung und Beobachtung der jüdischen Bevölkerung ergänzte andere, 1938 für das gesamte Reich erlassene, Maßnahmen zur Registrierung, wie etwa die zwangsweise Vermögensanmeldung, die Kennkartenpflicht oder die Änderung der Namen.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Rundbrief des Landrates des Dillkreises zur Erfassung der jüdischen Einwohner mit Antwortvermerk der Stadt Herborn ; Inv. Nr. Do2 88/1738.4

Doppelte Gefährdung

Als jüdischer Mensch mit Behinderung wurde Ursula Meseritz zum zweifachen Ziel der Nazipolitik.

„Die schöne Kehrseite in angeregter Unterhaltung. Hach, diese Sonne!“

Berlin

Als taubstumme Jüdin war Ursula Meseritz in den Augen der Nazis doppelt minderwertig: Seit dem 14. Juli 1933 galt das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das die Zwangssterilisierung von Menschen mit Behinderung sowie von Epileptikern legalisierte. Ursula hatte die einzige jüdische Schule für Gehörlose in Deutschland besucht, die „Israelitische Taubstummenanstalt“ in Berlin-Weißensee. Unter dem Naziregime wurde der Gebrauch von Zeichensprache in staatlichen Schulen verboten, und 1936 wurden jüdische Kinder aus Schulen ausgeschlossen, die gehörlose Kinder förderten. Laut einem „Fragebogen für Auswanderer“, den sie im April 1938 eringereicht hatte, war Ursula Laborantin für medizinische Diagnostik und hoffte, in Amerika in diesem Beruf tätig zu werden. Die Aufschriften auf diesen Fotos, datiert auf den 17. Juli 1938, zeigen, dass der Neunzehnjährigen ihr Sinn für Humor trotz der schwierigen Zeiten nicht abhanden gegangen war. Offenbar zeigen die Bilder Ursula mit ihrer Schwester und ihren Eltern, wie sie ein letztes Mal feiern vor der Abreise Ursulas in die USA.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Ursula Meseritz Elgart Familie Sammlung, AR 25544

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Eine unangemessene Unterstellung

Ein US-Amerikaner warnt seinen Cousin, Amerika sei kein Ort zum Faulenzen

„Ich möchte nicht, dass Du in die Irre geleitet wirst und hinterher bereust, also teile ich Dir im voraus mit, dass Du ehrgeizig arbeiten musst, um voranzukommen. Wenn Du irgendwelche Illusionen hast, Deutschland zu verlassen, um der Arbeit zu entgehen und Dir ein leichtes Leben zu machen, begehst Du einen schweren Fehler.“

New York/Wien

Im Mai 1938 hatte Betty Blum ihren Neffen Stanley Frankfurt in New York kontaktiert: Ihr Sohn Bruno habe seine Anstellung in Wien verloren und es sei unwahrscheinlich, dass er eine andere Beschäftigung finden würde. Über die Situation der österreichischen Juden im allgemeinen seit der Annexion des Landes durch Nazi-Deutschland breitete sie sich nicht weiter aus, fragte aber, ob Stanley etwas für Bruno tun könnte. Als Bruno Stanleys Brief vom 16. Juli bekam, muss er gleichzeitig erleichtert und betreten gewesen sein: während sein Cousin ihm versicherte, er sei für ihn tätig gewesen und habe die erforderliche bürokratische Vorarbeit für seine Einwanderung in die Vereinigten Staaten geleistet, hielt er es für notwendig, ihn darauf hinzuweisen, dass er im Irrtum sei, falls er vorhabe, nach Amerika zu kommen um „sich ein leichtes Leben zu machen“. War Stanley tatsächlich so wenig informiert über das Schicksal der österreichischen Judenheit unter den neuen Machthabern? Es kann angenommen werden, dass seine aufrichtigen Bemühungen um seinen österreichischen Cousin die Verblüffung, die er mit dieser unangemessenen Unterstellung hervorgerufen haben muss, ausgeglichen haben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Blum Familie Sammlung, AR 25132

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Aus dem „Roten Wien“ vertrieben

Die Nutzung öffentlichen Wohnungsbaus verwehrt, wird auch die Einreise in die Schweiz nicht gestattet

„Indem wir uns auf Ihre Eingabe vom 10. Juni 1938 berufen, müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass Ihrem Gesuche um Bewilligung der Einreise in die Schweiz zur Zeit nicht entsprochen werden kann.“

Bern/Wien

Für einen eingefleischten Sozialdemokraten wie den Journalisten, Übersetzer und Schriftsteller Maurus (Moritz) Mezei, müssen die Veränderungen, die unmittelbar nach der ungehinderten Annexion des Landes durch Nazi-Deutschland in Österreich Platz griffen, doppelt problematisch gewesen sein. Während der Ära des „Roten Wien“, der ersten Zeit demokratischer Regierung der Stadt von 1918 bis 1934, war Familie Mezei in den Karl-Marx-Hof, einen Gemeindebau (Komplex von Sozialwohnungen) gezogen. Von 1938 an waren „nicht-arische“ Familien wie die Mezeis mit der Ausweisung aus dem Komplex bedroht. Während nach dem Regierungswechsel anfänglich der Mieterschutz auch für Juden in Kraft blieb, galt er nicht für Gemeindebauten. Am 10. Juni hatte Mezei die Einwanderung in die Schweiz beantragt, doch die Antwort, geschrieben am 14. Juli, fiel negativ aus: Nur wenn er ein Einreisevisum für ein überseeisches Land beschaffe, würden die Schweizer Einwanderungsbehörden seinen Fall erneut überprüfen und ihm möglicherweise vorläufiges Asyl gewähren.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Wien

Original:

Brief der Eidgenössischen Fremdenpolizei an Maurus Mezei ; Inv. Nr. 20991/ 26

Kein Berg zu hoch

Von den Nazis getrennt, bleiben Käthe und Regina in Kontakt

„Es lohnte sich um dessetwillen schon oft etwas wie ein Tagebuch zu führen. Und auch noch um vieler anderer Dinge Willen, die nur in unserem Jahrhundert sich zutragen. Tuen [sic] Sie dies, wenn Sie können, Tapfere, Bewunderungswürdige. Sie haben wohl manches zu sagen, aus diesem Abstand, Reflektionen, wirkliche, nicht erkünstelte.“

St. Gallen/Binghamton, New York

Käthe Hoerlin und Regina Ullmann hatten mindestens drei Dinge gemeinsam: Beide hatten jüdische Vorfahren, beide traten zum Katholizismus über und bei beiden wirkte das Nazi-Regime massiv auf den Lebensverlauf ein. Regina Ullmann, eine Dichterin und Schriftstellerin, wurde vom Schutzverband deutscher Schriftsteller ausgeschlossen und verließ Deutschland, um in ihre Heimatstadt St. Gallen (Schweiz) zurückzukehren. Käthe Hoerlins erster Ehemann, der Musikkritiker Willi Schmid, war 1934 aufgrund einer Verwechslung von den Nazis hingerichtet worden.Tage nach dieser Tragödie erfuhr Käthe, die als Pressesprecherin der verhängnisvollen Nanga Parbat-Expedition fungierte, dass neun der Teilnehmer tödlich verunglückt waren. Dank der Hilfe eines Nazi-Beamten, der ihr nach Schmids Tod mit ihren Entschädigungsforderungen geholfen hatte, bekam sie 1938 Erlaubnis, den nicht-jüdischen Bergsteiger und Physiker Hermann Hoerlin zu heiraten (Eheschließungen zwischen „Halbjuden“, wie ihre Klassifizierung lautete, und „deutschblütigen Personen“ erforderten Sondergenehmigungen, die nur selten erteilt wurden). — Diesen Brief voller aufrichtiger Empathie und Interesse am Wohlergehen der Freundin in der neuen Umgebung und des Ausdrucks ihrer katholischen Identität schrieb Regina Ullmann gleich nach der Emigration der Hoerlins in die Vereinigten Staaten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Kate und Herman Hoerlin Sammlung, AR 25540

Original:

Archivbox 2, Ordner 13

Wahlverwandschaft

Gemeinsamer Nachname gibt Mut zum Risiko

„Bevor ich weiter ausführe, möchte ich ausdrücklich sagen, dass meine Familie Ihre Ankunft in New York kaum erwarten kann.“

NEW YORK/WIEN

Als der 28-jährige Wiener Kurt Kleinmann an Familie Kleinman in Amerika schrieb, hätte er nicht auf eine freundlichere, überschwänglichere Antwort hoffen können als die von der 25-jährigen Helen. Nachdem er die Adresse einer Familie Kleinman in den USA gefunden hatte, bat Kurt die völlig Fremden in einem Brief vom 25. Mai, ihm durch Übernahme einer Bürgschaft zu helfen, Österreich zu verlassen. Er hatte in Wien ein Jura-Studium absolviert und führte nun die väterliche Weinhandlung. Helen übernahm bereitwillig die Theorie, dass die Kleinmanns und die Kleinmans tatsächlich miteinander verwandt sein könnten und versprach ihrem „Cousin“, ihm innerhalb einer Woche eine Bürgschaft zu beschaffen. Liebenswürdig und lebhaft versicherte sie ihm, die Kleinmans würden mit ihm korrespondieren, um ihm die Zeit bis zur Abreise kürzer erscheinen zu lassen.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Kurt und Helen Kleinman Sammlung, AR 10738

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Papiere in Ordnung?

Die Unbedenklichkeitsbescheinigung eines Zehnjährigen

„Gegen die Ausreise des Hans Weichert, Gymnasiast (10 Jahre) [...] habe ich keine Bedenken.”

Wien

Juden, die sich der Schikane und physischen Gefahr unter den Nazis durch Auswanderung entziehen wollten, mussten eine große Anzahl von Dokumenten beschaffen, um sowohl die Nazi-Behörden als auch die Behörden im Zielland zu befriedigen. Um Erlaubnis zu erhalten, das Land zu verlassen, mussten die Antragsteller nachweisen, dass sie dem Reich keine Steuergelder schuldeten. Zusätzlich zu den Steuern, die allen Staatsangehörigen auferlegt waren, mussten zukünftige Auswanderer die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“ zahlen. Das ursprüngliche Ziel dieser während der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre eingeführten Steuer war, ein weiteres Ausbluten der Kassen durch Verlust von Steuereinkünften zu verhindern. Unter den Nazis jedoch war das Hauptziel, Juden zu schikanieren und auszubluten. Die Steuerbehörden der Nazis leisteten gründliche Arbeit: als Familie Weichert aus Wien, bestehend aus dem Rechtsanwalt Joachim Weichert, seiner Frau Käthe und den Kindern Hans und Lilian, sich auf das Weggehen vorbereiteten, würde selbst für den zehnjährigen Sohn eine steuerliche Unbedenklichkeitserklärung ausgestellt. Die Gültigkeitsdauer betrug einen Monat. Alle Dokumente innerhalb der Gültigkeitsdauer bereit zu haben, wenn die eigene Quotennummer an die Reihe kam, war eine weitere Herausforderung, der sich die Auswanderungswilligen stellen mussten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Weichert Familie Sammlung, AR 25558

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Es wird einfacher werden

Zuspruch für eine Siebzehnjährige

„Natürlich dauert es ein bisschen, bis man miteinander warm wird, besonders, wenn man die Sprache nicht beherrscht.“

Teplitz

Frau Pollak in Teplitz (Tschechoslowakei) schwankte zwischen Erleichterung, zu wissen, dass ihre Tochter in sicherem Abstand vom Zugriff der Nazis war, und Sorge um das körperliche und seelische Wohlergehen der 17jährigen Marianne. Nach anfänglichen Plänen, mit der Jugend-Alija nach Palästina auszuwandern, war das junge Mädchen nun ganz allein in England. Die Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland hatte in der Tschechoslowakei die Furcht vor einem ähnlichen Schicksal erweckt, und Juden hatten doppelten Grund zur Sorge – als Tschechen und als Juden. Während die Nachrichten aus Wien und Palästina düster waren und die Tschechoslowakei einer ungewissen Zukunft entgegenging, war Frau Pollak liebevoll darum bemüht, Marianne zu versichern, dass das Leben im neuen Land leichter werden würde.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

John Peters Pinkus Familie Sammlung, AR 25520

Original:

Archivbox 2, Ordner 22

Mitarbeiterverlust

Noch ein wertvoller Mitarbeiter der Zionistischen Vereinigung wandert aus

„Alle ihm übertragenen Arbeiten hat Herr Friedmann mit einer weit über das gewöhnliche Maß hinausgehenden Hingabe und mit eisernem Fleiß durchgeführt.“

Berlin

Die Zionistische Vereinigung für Deutschland war in einer heiklen Lage: Während sie die Auswanderung von Juden aus Nazi-Deutschland unterstützte, tat sie sich schwer mit dem ständigen Aderlass fähiger Mitarbeiter, besonders auf der Führungsebene, und der Notwendigkeit, sie zu ersetzen. Dennoch unterstützte Benno Cohn, Mitglied der Exekutive, großzügig einen weiteren abreisenden Kollegen mit diesem zutiefst anerkennenden Empfehlungsschreiben: Rudolf Friedmann war seit 1933 in verschiedenen Kapazitäten im Zionistischen Zentralbüro in Berlin beschäftigt und diente ihm mit äußerster Gewissenhaftigkeit und Hingabe. Cohn lobt seine organisatorischen Fähigkeiten und Ideen und empfiehlt ihn wärmstens an jede zionistische oder andere jüdische Organisation.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Willy Nordwind Sammlung, AR 10551

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Richtungswechsel

Der „Hilfsverein der Juden in Deutschland“ unterstützt jüdische Aus- anstatt Einwanderer

Berlin

Der 1901 in Berlin gegründete „Hilfsverein der deutschen Juden“ unterstützte vor allem jüdische Einwanderer nach Deutschland. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kümmerte sich der nun zwangsweise umbenannte „Hilfsverein der Juden in Deutschland“ umgekehrt um die Vorbereitung und Umsetzung der Emigration aus Deutschland. Dazu bot er Hilfe bei Behördenfragen, Passangelegenheiten oder beruflicher Umschulung an und gewährte auch finanzielle Unterstützung. Ein wichtiges Organ für seine Arbeit war das Periodikum „Jüdische Auswanderung“, das über allgemeine Lebens- und Arbeitsbedingungen, aber auch über spezifische Fragen jüdischer Kultur in verschiedenen Ländern informierte. Im Juli-Heft von 1938 wurden die USA, Kuba und die Philippinen vorgestellt.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Informationsheft „Jüdische Auswanderung“. Korrespondenzblatt für Auswanderungs- und Siedlungsfragen ; Inv. Nr: Do2 91/194

Dass einem schwindelig wird

Ständig ändernde Bestimmungen zu Ausreise und Ausfuhr

„Ihr werdet sagen, warum ist das nicht schon geschehen, aber das liegt an der raschen Folge der Vorschriften & da ist so rasch die Auskunft nicht erhältlich.”

FRANKFURT AM MAIN/NEW YORK

Dieser Brief eines Vaters an seine Kinder wird fast ausschließlich dominiert von Sorgen bezüglich des Transfers von Personen und Gegenständen aus dem deutschen Staatsgebiet hinaus. Laut dem Schreiber änderten sich die Bestimmungen mit solcher Geschwindigkeit, dass es schwierig war, den Überblick zu behalten. Letztens war verfügt worden, dass sowohl für Umzugsgut als auch für Reisegepäck detaillierte, genehmigungspflichtige Listen einzureichen seien. Dies konnte recht zeitraubend sein. Der Schreiber des Briefes hatte das Gefühl, die Geschwindigkeit, mit der Antworten gegeben wurden hielte nicht Schritt mit der Geschwindigkeit der Veränderungen, die Erkundigungen erforderlich machten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Gerda Dittmann Sammlung, AR 10484

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Rückenstärkung vom Arbeitgeber

Paul Schrag kann seine professionellen Optionen in den USA prüfen

„Es ist gut, dass ein Aufbruch so reich an täglichen Aufgaben ist, an Unannehmlichkeiten auch, dass man dabei wenig zum Nachdenken kommt. Niemals aber bin ich stärker von den Dämonen des Zweifels heimgesucht worden als jetzt, tags und nachts.“

Brüssel/Fribourg

Der deutsche Jurist Paul Schrag war am Institut d’Economie Européenne in Brüssel beschäftigt. Mit seiner jüdischen Ehefrau Suzanne und einem Kleinkind wollte er am 15. Juli von Le Havre aus in die Vereinigten Staaten aufbrechen. Am 2. Juli schrieb er einen Brief an Professor Max Gutzwiller in Fribourg in der Schweiz, der seinen Lehrstuhl für Deutsches Privatrecht und Römisches Recht an der Universität Heidelberg 1936 aufgegeben hatte, weil er ein scharfer Kritiker der Nazis und ebenfalls mit einer Jüdin verheiratet war. Schrag bittet ihn um eine Art Zeugnis oder Empfehlungsschreiben zur Verwendung in den Vereinigten Staaten. Schrag genoss offensichtlich die Wertschätzung seiner Arbeitgeber: Die Institutsleitung hatte sich bereit erklärt, ihm bis zum Jahresende die Position des Generaldirektors vorzubehalten und ihm sogar eine „Studienmission“ anvertraut, um ihm zu ermöglichen, ohne größeren Druck seine professionellen Aussichten in Amerika zu prüfen.

Abschied, um neu anzufangen

Hans Lamm geht auf „Amerika-Wanderung“

Berlin

So tief war das Hüten des Sabbats, der Feiertage und der jüdischen Speisegesetze im Leben der Familie Lamm verwurzelt, dass selbst die katholische Köchin Babett für die Einhaltung der Bräuche sorgte. Bei traditioneller Auffassung des Judentums waren die Lamms weltlichen Dingen gegenüber aufgeschlossen. Nach dem Gymnasium studierte Hans für kurze Zeit Jura, verstand aber schnell, das er als Jude in dem neuen politischen Klima in diesem Bereich nicht vorankommen würde und sattelte daher auf eine journalistische Laufbahn um. Die Karrieren jüdischer Journalisten wurden zu dieser Zeit massiv dadurch behindert, dass nicht-jüdische Zeitungen sie nicht anstellten und jüdische nach und nach zur Einstellung gezwungen waren. 1937 zog Lamm nach Berlin, wo er bei Leo Baeck und Ismar Elbogen an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums studierte, um sein Verständnis des Judentums zu vertiefen. Tief verwurzelt in der deutschen Kultur, konnte er sich nur schwer zur Auswanderung entscheiden. Doch schließlich überzeugte ihn sein älterer Bruder, dass es in Deutschland für Juden keine Zukunft gebe. In diesem Brief verabschiedet sich der 25-jährige Lamm herzlich und höflich, aber ohne spürbare Emotionen, von der Redaktion der Monatszeitung „Der Morgen“, einer anspruchsvollen Publikation, deren Mitarbeiter er gewesen war, und bedankt sich für die Förderung.

QUELLE

Institution:

New Synagogue Berlin – Centrum Judaicum

Original:

Abschiedsschreiben von Hans Lamm an die Redaktion des „Morgen“ vor seiner Auswanderung in die USA; CJA, 1 C Mo 1, Nr. 2, #12509, Bl. 29

Ausweisung binnen 24 Stunden

Die Situation ist prekär für jüdische Immigranten in Jugoslawien

„Ich sage Euch das eine, der Antisemitismus macht nicht in Deutschland, oder Österreich, oder Ungarn, oder Rumänien, oder Jugoslavien halt, wenn nicht ein Wunder geschieht oder durch eine Katastrophe die Menschen aufgerüttelt werden.“

BELGRAD/NEW YORK

Während der Antisemitismus in Jugoslawien in keiner Weise ein neues Phänomen war – tatsächlich hatte seit Ende des Ersten Weltkriegs das gesamte politische Spektrum Anlässe zu judenfeindlichen Auslassungen gefunden – verschlechterte sich die Situation in den dreißger Jahren unter dem Einfluss der Ereignisse in Deutschland. Der Nürnberger Fritz Schwed hatte, was den vorläufigen Zufluchtsort seiner Familie betraf, keine Illusionen: In diesem langen Brief an seinen alten Freund aus Nürnberger Tagen, Fritz Dittmann, der nach New York geflohen war, beschreibt Schwed die prekäre Situation von Emigranten in Jugoslawien, die mit einer Vorwarnung von bloßen 24 Stunden ausgewiesen werden konnten. Selbst ältere und bereits längere Zeit im Lande ansässige Menschen waren von dieser grausamen Regelung nicht ausgeschlossen. Emigranten bekamen keine Arbeitserlaubnis, und wenn sie beim Übertreten des Verbots ertappt wurden, mussten sie mit sofortiger Ausweisung rechnen. Mit dem Fazit „Es ist für deutsche Juden kein Platz mehr in Jugoslawien und wie mir scheint, auch nirgends mehr in Europa“, begann Schwed, die Möglichkeit einer Emigration nach Australien oder Südamerika auszukundschaften.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Gerda Dittmann, AR 10484

Original:

Archivbox 1, Ordner 3

Erschütterte Existenz

Wie leben mit dem Nationalsozialismus?

New York

Der erste größere Bruch in der Biographie des Künstlers Gustav Wolf war während des Ersten Weltkriegs geschehen: Er hatte sich freiwillig zum Dienst an der Front gemeldet und war schwer verwundet worden. Sein Bruder Willy war im Gefecht gefallen. Die Werke, in denen er seine Kriegserlebnisse verarbeitete, lassen keinen Zweifel an seinen Gefühlen: Statt den Krieg zu verherrlichen, zeigt er dessen Grauen. Die Begegnung mit dem Antisemitismus im Krieg und in der Folge führten zu einem verstärkten Bewusstsein um seine jüdische Identität. 1920 nahm er eine Professur an der Badischen Landeskunstschule in Karlsruhe an, wo er versuchte, sein Ideal eines gleichberechtigten Miteinanders von Lehrer und Schüler zu verwirklichen. Nach einem Jahr gab er diese „tote Tätigkeit“ an der Schule, die er als „Intriganten-Anstalt“ bezeichnete, auf. 1929 entwarf er die Ausstattung zu Fritz Langs Stummfilm „Die Frau im Mond“, einem frühen Science Fiction-Film. Nach der Machtübernahme durch die Nazis kündigte er seine Mitgliedschaft in sämtlichen Künstlervereinigungen auf, denen er angehört hatte. Bei der Badener Secession erklärte er es so: „Ich muss mich erst wieder zurechtfinden. Die Grundlagen meiner Existenz sind in Frage gestellt und erschüttert.“ Nach ausgedehnten Aufenthalten in der Schweiz, in Italien und Griechenland kehrte er 1937 nach Deutschland zurück. Der 26. Juni 1938 war sein 49. Geburtstag.

Leberknödel, Weihnachtsstollen, Mazzenklößchen

Der Nationalsozialismus zerstört im Nu, was langsam wuchs

Krumbach

In Anni Buffs privatem Kochbuch, auf den 25. Juni 1938 datiert, überwogen eindeutig die traditionellen bayerischen Gerichte, wie Leberknödel, Weihnachtsstollen und Topfenkräpfle, gegenüber den jüdischen, wie z.B. Mazzenklößchen. Die jüdische Gemeinde in ihrem Geburtsort Krumbach war gut integriert. Seit ihrem Höchststand Anfang des 19. Jahrhunderts, als sie etwa 46% der Bevölkerung ausmachte, war sie erheblich zurückgegangen, und 1933 waren nur noch 1,5% der Krumbacher Bevölkerung jüdisch. Trotz dieser unwesentlichen Präsenz von Juden machte sich der Nationalsozialismus mit seiner fanatisch anti-jüdischen Botschaft schnell breit, und noch bevor er zur nationalen Politik wurde, kam es in der kleinen Stadt zur Belästigung von Juden durch SA-Leute. 1938 wurden die Übergriffe so unerträglich, dass Annis Vater Julius, der mit Polstermaterial handelte, Möglichkeiten zu untersuchen begann, an sichereren Ufern ein neues Zuhause zu finden, etwa in den Vereinigten Staaten, der Dominikanischen Republik oder Schanghai. Nicht einmal die Tatsache, dass er im Ersten Weltkrieg einen Bruder verloren und selbst im Königlich Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 16 gedient hatte – an der Seite eines jungen Österreichers namens Adolf Hitler – trug dazu bei, seine Position gegenüber den Nazi-Behörden zu verbessern.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Anni Krantz, AR 11284

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Praktische Ausbildung für Palästina

Neue Absolventinnen an der Jüdischen Fachschule für Schneiderinnen in Hamburg

Hamburg

Als die Chaluz-Bewegung in den zwanziger Jahren begann, in Deutschland Fuß zu fassen, hatte sie es schwer, auf die überwiegend assimilierten Juden, die sich als „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens“ sahen, irgendwelche Anziehungskraft auszuüben. Die Bewegung zielte darauf ab, junge Juden durch die Lehre der hebräischen Sprache sowie landwirtschaftlicher und handwerklicher Fähigkeiten auf das Leben in Palästina vorzubereiten. Erste nennenswerte Verstärkung kam durch die Weltwirtschaftskrise (ab 1929), die die Auswanderung wie eine Gelegenheit zur wirtschaftlichen Verbesserung erscheinen ließ. Größeren Zulauf erhielt sie allerdings nach der Machtübergabe an die Nazis: Sogenannte „Hachscharot“ entstanden überall in Deutschland, um jungen Juden eine gehaltvolle jüdische Identität und nützliche Fähigkeiten zu vermitteln. Dieses Foto zeigt Absolventinnen der Jüdischen Fachschule für Schneiderinnen auf der Heimhuderstraße.

QUELLE

Institution:

Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ)

Original:

Bilder-Datenbank des Instituts für die Geschichte der Deutsche Juden, Sammlung Ursula Randt, mit freundlicher Genehmigung von Rahel Calm ; 21-015/105

Besuch beim US-Konsulat

Heinz Ries kann endlich einwandern

Havanna

Nachdem sein erster offizieller Einwanderungsversuch unter abenteuerlichen Bedingungen gescheitert war, bemühte sich der zwanzigjährige Heinz Ries aus Berlin ein weiteres Mal darum, dauerhaft und rechtmäßig in den USA leben zu dürfen. Monatelang hatte er sich illegal in New York durchgeschlagen. Erst mit Hilfe einer Bürgschaft, einer erneuten Einreise über Havanna (Kuba) und wiederholter Vorsprache beim dortigen amerikanischen Konsulat, wo er am 23. Juni 1938 erstmals vorstellig wurde, gelang sein Vorhaben. Nach dem Krieg kehrte er zunächst als Mitarbeiter der Alliierten, dann als Fotoreporter der New York Times für einige Zeit nach Deutschland zurück. Aus diesen Jahren stammen die Fotos der Berliner Blockade und Luftbrücke, die ihn unter dem Namen Henry Ries weltberühmt machten.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Einwandererausweis der Vereinigten Staaten von Amerika für Heinz Ries ; Inv.No. Do2 2009/488

Der sechste Geburtstag im Exil

Billy Wilder arbeitet für Paramount Pictures in den USA

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HOLLYWOOD

Samuel (später „Billy“) Wilder hatte seinen eigenen Kopf: 1906 als Kind einer österreichisch-jüdischen Familie in der galizischen Stadt Sucha Beskidzka geboren, wurde von ihm erwartet, dass er ins väterliche Geschäft einsteigen würde, das hauptsächlich aus einer Kette von Bahnhofslokalen bestand. Doch nach dem Realgymnasium und einem kurzen Versuch des Jura-Studiums (er sprang nach drei Monaten ab) in Wien, entschloss er sich, seinen eigentlichen Neigungen zu folgen: Bei der Zeitung „Die Stunde“, einer Boulevardzeitung von zweifelhaftem Ruf, bekam er die erste Gelegenheit, sein Schreibtalent zu üben. 1926 ergab sich für ihn die Möglichkeit, nach Berlin zu ziehen, wo er freiberuflich bei verschiedenen Boulevardzeitungen arbeitete und mit dem Schreiben von Drehbüchern begann. Nach der Machtübernahme der Nazis zog Wilder nach Paris und bekam die Gelegenheit, seinen ersten Film, „Mauvaise graine“, zu inszenieren. 1934 reiste er mit einem Besuchervisum in die Vereinigten Staaten ein. Ab 1936 stand er bei Paramount Pictures unter Vertrag. Der 22. Juni war sein 32. Geburtstag – der sechste, den er im Exil feierte.

QUELLE

Institution:

The Oscar Academy Award

Sammlung:

Billy Wilder

Eine Wochenzeitung als Rettungsanker

Die „Aufbau“ liefert Tipps zum Neuanfang

„159. Str., 575 West, Apt. 22—Schön möbliertes Frontzimmer für 1 oder 2 Personen, fliessendes Wasser, preiswert.“

New York

Als der Zustrom von Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland zunahm, wurde aus dem, was als Jubiläumsheft des German Jewish Club begonnen hatte, schnell eine professionelle Publikation und ein Rettungsanker für die Entwurzelten: Die Wochenzeitung war mit ihrer breiten Auswahl kultureller und sportlicher Aktivitäten unter Schicksalsgenossen ein seelischer Anker, bot aber auch praktische Hilfe bei der Niederlassung im neuen Land. Diese Ausgabe des „Aufbau“ vom Juni 1938 zeichnet sich durch eine große Anzahl von Wohnungsangeboten aus, meist für voll möblierte Zimmer, oft im Stadtteil Washington Heights im Nordteil Manhattans, wodurch Besitzern oder Hauptmietern etwas zusätzliches Einkommen eingebracht wurde. Gleichzeitig wurde erschwinglicher Wohnraum für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt, die in der Regel mit sehr wenig Geld und Besitz ankamen.

Post aus Shanghai

Ein deutsch-jüdischer Auswanderer berichtet

„Es gibt nicht einen einzigen Juden hier, der sich nicht ernähren kann.“

Schanghai/Berlin

Zu einer Zeit, als mehr und mehr Juden den dringenden Wunsch verspürten, das Land zu verlassen, muss dieser Brief eines deutsch-jüdischen Auswanderers in Shanghai, gerichtet an die „Herren vom Hilfsverein“, zukünftige Auswanderer mit neuer Hoffnung erfüllt haben: Der Schreiber dankt dem Hilfsverein überschwänglich für die Beratung und berichtet begeistert von der Vielzahl beruflicher Optionen, die Einwanderern an seinem neuen Standort zur Verfügung stehen: „Voraussetzung ist natürlich, dass man irgend etwas können muss und intensiv arbeiten kann.“ Seiner Einschätzung nach waren Musiker, Ärzte und Kaufleute stark gefragt und die Situation für Sekretärinnen und Stenotypistinnen besonders vielversprechend – unter der Bedingung, dass sie über perfekte Englischkenntnisse verfügten, was unter deutschen Juden in keiner Weise selbstverständlich war. Die Neuankömmlinge waren nicht die einzigen Juden im Land: Etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es eine sephardische Gemeinde, und seit Anfang des 20. Jahrhunderts, dann verstärkt durch den Zusammenbruch des Zarenreichs, hatten sich aschkenasische Juden in der Stadt angesiedelt.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin

Original:

Vol 28, Nr. 25, S. 5.

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