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Ruhe bewahrt

Gestapo zieht unverrichteter Dinge ab

„Falls sie mich verhaften wollen, müssten sie auch meine zwei kleinen Buben, die ohne Pflege jetzt dastehen würden, mit mir mitnehmen, oder sie sollen circa 6 Wochen warten, bis meine Frau vom Krankenhaus zurück ist.“

Linz

Seit Adolph Markus am 20. April mit Verwandten in Wien die Möglichkeit der Auswanderung besprochen hatte, nahm er zwei bis dreimal wöchentlich in der Synagoge Englischunterricht. Am 29. April war sein Schwager von der Gestapo festgenommen worden, und die Spannung und Nervosität des Ehepaars Markus begann sich auf die Kinder zu übertragen. Zwei Wochen später war Frau Markus von der Gestapo bezüglich des Wertes ihres gesamten Besitzes, einschließlich eines Hauses, verhört worden. Schließlich, am 18. Juni, erschienen zwei Gestapo-Beamte in der Wohnung der Familie: Während sie den Inhalt einiger Schachteln durchgingen, versuchte einer der beiden, Adolph Markus zu inkriminieren, indem er ein kommunistisches Flugblatt zwischen seine Papiere schmuggelte. Markus brachte die Ruhe und Selbstsicherheit auf, die Beamten darauf hinzuweisen, dass er nie in irgendeiner Weise politisch aktiv gewesen sei. Sein Hinweis auf seinen Frontdienst im Ersten Weltkrieg, zusammen mit der Bemerkung dass sie, falls sie ihn festnehmen wollten, auch seine beiden kleinen Söhne würden mitnehmen müssen, da ihre Mutter im Krankenhaus sei, brachte sie von ihrem Vorhaben ab. Sie zogen ab – unter der Drohung, sechs Wochen später wieder zu kommen, falls er nicht aus eigenen Stücken das Land verließe.

Ein Strohhalm

Gelingt eine Bürgschaft trotz dünnem Kontakts?

„Es ist sehr schwierig, Ihnen zu schreiben, denn ich bin sicher, Sie haben keine Ahnung, wer ich bin.“

Wien

Erika Langstein war eine junge Englischlehrerin und lebte in Wien. Im Juni 1938, nachdem sie bereits einige Monate lang die Verfolgung der Juden in der österreichischen Hauptstadt persönlich miterlebt hatte, schickte Erika einen Brief an Donald Biever, einen amerikanischen Staatsbürger, und flehte ihn an, ihr und ihrem jüdischen Vater zu helfen, aus Österreich zu entkommen, indem er eine Bürgschaft übernahm. Nichts daran wäre ungewöhnlich, wäre da nicht der Umstand, dass die junge Frau Mister Biever nur ein einziges Mal begegnet war, kurz, auf einer Bahnfahrt ein Jahr zuvor, und seither nicht mit ihm kommuniziert hatte. Ohne sich durch den Mangel an Kontakt von ihrem Vorhaben abbringen zu lassen, beschreibt Erika die Hoffnungslosigkeit der Situation in Wien. Für den Fall, dass Biever sich nicht an ihre Begegnung erinnern könne, heftet sie ihr Foto bei.

In Einzelfällen

Die Flüchtlingspolitik Australiens

Das kanadische Einwanderungsministerium hat aus Melbourne Nachricht erhalten, wonach "keine besonderen Erleichterungen für Gruppen jüdischer Migranten nach Australien" bewilligt werden sollen.

Melbourne

Unter dem Eindruck der Machtübernahme der Nazis in Deutschland und zunehmendem Antisemitismus in Europa bewies der große jiddische Schriftsteller und kulturelle Aktivist Melech Rawitsch die Weitsicht, bereits 1933 die Mittel für eine Reise von seinem Heimatland Polen nach Australien zu organisieren, um die ungastliche Kimberley-Region als möglichen Ort der Ansiedlung von Juden auszuforschen. Seine optimistische Schlussfolgerung war, die Herausforderungen des Outback könnten mit ‚‚mehr Wasser, weniger Bier“ bezwungen werden. 1938 begann auch die territorialistische ‚‚Freilandliga“ diese Möglichkeit zu erörtern. Laut Bericht der Jewish Telegraphic Agency vom 15. Juni war die australische Regierung bereit, individuelle Fälle einreisewilliger Juden in Betracht zu ziehen, war jedoch nicht gewillt, eine jüdische Masseneinwanderung ins Land zu unterstützen.

Vogelfrei

Juden aus Burgendland vertrieben

„Man lernt hier, was wirklich wichtig ist im Leben. Den Leuten spielt auch Geld keine Rolle mehr, auch das ist unwichtig geworden.“

Eisenstadt

Die jüdische Gemeinde in Eisenstadt im österreichischen Burgenland war nie besonders groß gewesen, aber als älteste Gemeinde in der Gegend reichte sie bis ins 14. Jahrhundert zurück und hatte ein reiches kulturelles Leben. Im Augenblick der Annexion Österreichs an Deutschland am 12. März 1938 wurden Juden vogelfrei: Unter dem zutiefst rassistischen Gauleiter Tobias Portschy war das Burgenland der erste Teil Österreichs, der seine jüdische Bevölkerung vertrieb. Um ihren alten Eltern mit den Vorbereitungen zum Umzug zu helfen, hielt sich Hilde Schlesinger im Juni 1938 in Einsenstadt auf. In ihrem Geburtstagsbrief an ihre Tochter Elisabeth in Amerika bemerkt sie, diese sei „zu einem echten jüdischen Kind geworden, zu einem nicht sesshaften, zum Wandern immer bereiten“, im Gegensatz zu ihrer eigenen emotionalen Verbundenheit zu Eisenstadt, aus dem sie sich nun entwurzeln musste. Frau Schlesinger Schiff hofft, ihre Eltern werden bald die Einreisegenehmigung in die Tschechoslowakei erhalten, aber noch ist die bürokratische Seite nicht geklärt. Es ist offensichtlich, wie unangenehm sie die Erpichtheit der Nichtjuden auf Schnäppchen berührt, die sie als „Leichenraub“ bezeichnet, während Ihre Familie gezwungen ist, einen Großteil ihres Eigentums zu veräußern.

Anne weiß es besser

Familie Frank feiert den 9. Geburtstag ihrer Tochter

Amsterdam

Um das zunehmend antisemitische Deutschland hinter sich zu lassen, war Familie Frank aus Frankfurt am Main kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die Niederlande geflohen. Sie ließ sich auf dem Merwedeplein in Amsterdams Fluss-Viertel nieder, wo mehr und mehr deutschsprachige Flüchtlinge Zuflucht fanden. So groß war der Zustrom von Juden, dass manche unter den lokalen Juden besorgt waren, es würde ihren gesellschaftlichen Stand beeinträchtigen und Antisemitismus hervorrufen. Die ältere Tochter der Franks, Margot, ging auf der Jekerstraat zur Schule. Anne besuchte die 6. Montessori-Schule, die nur fünf Minuten Fußweg von der Wohnung der Familie entfernt war. Fünfzehn ihrer Klassenkameraden waren jüdisch. Sie liebte es, Geschichten zu erzählen und zu schreiben. Anne war neugierig, anspruchsvoll, interessiert und ausgesprochen wortgewandt. Wie die Mutter ihrer guten Freundin Hanneli zu sagen pflegte, “Gott weiß alles, aber Anne weiß es besser.“ 1938 beantragte Annes Vater Otto Frank Einreisevisen für die Vereinigten Staaten. Der 12. Juni 1938 war ihr 9. Geburtstag.

QUELLE

Lebensrettende Verwandschaft

Frank Fenner aus Michigan bürgt für seinen Neffen in Wien

„... dass ich willens und in der Lage bin, alle hier erwähnten Personen zu empfangen, zu unterhalten und zu unterstützen und ich hiermit dafür bürge, die Vereinigten Staaten, jeden Staat, Stadt, Dorf oder Gemeinde davor zu schützen, dass einer der hier erwähnten Ausländer der Öffentlichkeit zur Last fällt.“

Mendon, Michigan

Fast 50 Jahre, bevor er eine Bürgschaft für seinen Neffen Karl Grosser in Wien ausstellte, war Frank W. Fenner selbst aus Europa in die Vereinigten Staaten eingewandert. Als Besitzer eines Restaurants und einer Konditorei in Mendon, Michigan, konnte er seinen jungen Verwandten unterstützen, bis dieser in der Lage wäre, für sich selbst zu sorgen. Das Auffinden eines Bürgen war eine wichtige Bedingung für den Erhalt eines Einreisevisums, die oft schwer zu erfüllen war. Der Visumsprozess begann mit der Anmeldung beim nächsten amerikanischen Konsulat, wo dem Antragsteller ein Platz auf der Warteliste zugeteilt wurde. Die Länge der Liste war abhängig von der Anzahl der Menschen, die laut dem 1924 eingeführten Quotensystem der Vereinigten Staaten jeweils aus einem Land einwandern durften. Trotz der schweren Flüchtlingskrise 1938 hatte es keinerlei Revision erfahren. Während der Wartezeit mussten die Auswanderungskandidaten sämtliche benötigten Dokumente beschaffen, und mit etwas Glück waren sie noch gültig, wenn ihre Nummer an die Reihe kam.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Carl A. Grosser. AR 10559

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Seelenverfassung

Keine Begeisterung, aber Wille zum Erfolg

„Ich glaube, wenn Du Dich für Palästina entscheiden solltest, dass Du dazu zwar keine Begeisterung brauchst. Die Mehrheit wandert heute ein ohne jede Begeisterung, aber Du brauchst den festen Willen hier trotz aller Schwierigkeiten, geringem Einkommen und schwerer Arbeit bei klimatischen Schwierigkeiten Dich durchzusetzen.“

TEL AVIV/ZÜRICH

Herbert Mansbach, ein deutscher Student der Zahnmedizin, der vorübergehend in der Schweiz ansässig war, hatte Glück: Ein Freund von ihm war bei der Krankenkasse (Kupat Cholim) des Allgemeinen Verbands der Arbeiter in Eretz Israel (Histadrut) angestellt und konnte ihm wertvolle Informationen zur Aufnahme in einem Kibbutz und zum Auffinden eines Arbeitsplatzes in Palästina geben: Die Hauptvoraussetzungen für eine Kibbuzmitgliedschaft waren die Zugehörigkeit zur HeChaluz-Pionier-Jugendbewegung und einige Hebräischkenntnisse. Um allerdings eine Anstellung als Zahnarzt in Tel Aviv zu bekommen, war perfektes Hebräisch unabdingbar. Herberts Freund zeichnete ein ernüchterndes Bild von der Seelenverfassung der Neueinwanderer: Die Mehrheit, schreibt er, käme ohne Begeisterung – Entschlossenheit zum Erfolg sei wichtiger.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Joseph Mansbach, AR 7073

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Martin Buber folgt Ruf an Hebräische Universität

Der Sozialphilosoph und seine Ehefrau Paula ziehen nach Jerusalem

Jerusalem

1933 entschloss sich der renommierte Religionsphilosoph Martin Buber, aus Protest gegen die Machtübernahme durch die Nazis seine Honorarprofessur an der Goethe Universität Frankfurt niederzulegen. Daraufhin verbat im das Regime, öffentlich Vorträge zu halten. In der Folgezeit gründete Buber die Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung und begegnete den Bemühungen der Nazis, die deutsche Judenheit zu marginalisieren und zu zerstören, indem er jüdische Identität durch Bildung stärkte. Erst Ende Mai 1938 folgte er einem Ruf an die Hebräische Universität, um den neuen Lehrstuhl für Sozialphilosophie zu übernehmen, und zog mit seiner Frau Paula, einer Schriftstellerin, nach Jerusalem. Das Ehepaar ließ sich im Stadtviertel Talbiyeh im Westteil der Stadt nieder, das zu dieser Zeit von Juden und Arabern bewohnt war. Es grenzt an Rechavia an – damals eine Hochburg von Einwanderern aus Deutschland. Buber gehörte zu jenen, denen eine friedliche Koexistenz in einem binationalen Staat vorschwebte.

Henry Kissinger wird 15

In seinem Heimatort Fürth bekommt er den Ernst der Lage zu spüren

FÜRTH

Am 27. Mai feierte der fünfzehnjährige Heinz Alfred (später Henry) Kissinger seinen Geburtstag noch einmal in seinem Geburtsort Fürth. Heinz hatte die jüdische Volksschule und ein Gymnasium in seiner Heimatstadt besucht. Seit 1933 durften jüdische Kinder nicht mehr staatliche Schulen besuchen, so dass ihm und seinem jüngeren Bruder Walter nur die Israelitische Realschule offenstand. Auch anderswo machten sich die neuen Zeiten im Leben der Kinder bemerkbar: Plötzlich durften sie bei Besuchen bei den Großeltern in Leutershausen nicht mehr mit den anderen Kindern in der Altmühl schwimmen. Auch Heinz‘ Fußballbegeisterung wurde ein Riegel vorgeschoben: Juden war es untersagt, die Spiele der Spielvereinigung Fürth zu besuchen. Obwohl sein Vater Louis von seiner Stelle als Lehrer im Lyzeum mit Inkraftreten des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums im Jahr 1933 unbefristet beurlaubt worden war und zunehmende gesellschaftliche Isolation erfuhr, war er geneigt, durchzuhalten. Es war seiner Mutter Paula (geb. Stern) zu verdanken, dass Louis Kissinger im April 1938 Pässe beantragte und im Mai die Vorbereitungen der Familie zur Auswanderung auf Hochtouren liefen. Zum Glück waren Verwandte Paulas bereits vor 1933 in die Vereinigten Staaten ausgewandert und halfen nun mit der bürokratischen Vorarbeit.

Reichsfluchtsteuer

Auswanderer müssen ein Meer an finanziellen und bürokratischen Hürden überwinden

LÖRRACH

Seit 1937 bemühten sich Lina und Siegmund Günzburger aus Lörrach in Südwestdeutschland und ihr Sohn Herbert, ihre Auswanderungspapiere zusammenzustellen. Die Auflagen waren nichts weniger als ein Albtraum: Zukünftige Auswanderer mussten eine Vielzahl persönlicher Dokumente, Empfehlungsschreiben und Bürgschaften beschaffen und waren verpflichtet, ein Inventar ihres gesamten Besitzes zusammenzustellen. Auch mussten sie dokumentieren, dass keine Steuerrückstände bestanden. Besonders perfide war die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“: Ursprünglich eingeführt in der Endphase der Weimarer Republik, um die Kapitalflucht in Reaktion auf die Sparpolitik der Regierung zu verhindern, wurde sie zu einem Werkzeug in der Hand der Regierung, um die Juden für das Verlassen des Landes zu bestrafen, das es ihnen unerträglich machte, zu bleiben.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Herbert Guenzburger, AR 5947

Original:

Archivbox 1, Ordner 2

Bereit für Deutschland

Psychische Bewältigungsversuche eines nationalistischen deutschen Juden

„Ich bin Jude! – Jude in verzweifelter Position: jüdischer Deutscher, der trotzt Allem, was ihm wiederfuhr- oder gerade dieserhalb-seine Deutschen Bindungen nicht abstreifen kann (…).“

Hildesheim/Berlin

Der Verfasser dieses Briefes ist ein junger Mann aus Hildesheim, Fritz Schürmann (später Frank Shurman), geboren 1915. Obwohl er lange vor der Machtübernahme der Nazis mit Antisemitismus zu kämpfen hatte, trat er 1934 dem „Deutschen Vortrupp“ bei, einer extrem nationalistischen Gruppierung junger deutscher Juden mit dem Motto „Bereit für Deutschland“, die den Nationalsozialismus als eine Kraft begrüßten, die den Untergang Deutschlands verhindere. Angesichts dieser Einstellung muss es für ihn besonders schmerzhaft gewesen sein, der bitteren Realität der Ablehnung durch die deutsche Gesellschaft gegenüber zu stehen. In dem Brief dankt er einem Herrn Dilthey in Berlin für die Auszeichnung, mit ihm Zeit verbracht zu haben und klärt ihn dramatisch über seine jüdische Identität auf: „Ich bin Jude! – Jude in verzweifelter Position: jüdischer Deutscher, der trotz allem, was ihm widerfuhr – oder gerade dieserhalb – seine deutschen Bindungen nicht abstreifen kann […].“ Nachdem ihm seine Identität als Deutscher durch das Naziregime verweigert wurde, kommuniziert er die lähmenden Auswirkungen der politischen Situation auf seine Psyche und die Absurdität des Gedankens, Deutschland verlassen zu müssen, um Deutscher sein zu können.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Frank M. Shurman, AR 25219

Original:

Archivbox 1, Ordner 25

Unruhiges Palästina

Weg vom Nationalsozialismus, aber nicht von der Gewalt

„Es gab keine Todesopfer.“

Jerusalem

Nichts in diesem Bericht der Jewish Telegraphic Agency vom 19. Mai war dazu angetan, deutschen oder österreichischen Juden, die dringend zu sichereren Ufern aufbrechen wollten, Hoffnung zu geben, dass das Leben in Palästina ihnen Ruhe und Frieden bescheren würde: Bei arabischen Angriffen auf jüdische Arbeiter oder Infrastruktur und Unruhen unter beschäftigungslosen Juden war der einzige beruhigende Aspekt die Entfernung zum Epizentrum nationalsozialistischer Aktivität. Seit Beginn des Arabischen Aufstands waren Araber, Briten und Juden in Palästina in einen oft gewalttätigen Konflikt verwickelt – nicht gerade eine Attraktion für erschöpfte mitteleuropäische Juden, deren größter Wunsch ein Szenenwechsel hin zu Sicherheit und Frieden war.

Durchbrochene Ausbildung

Ruth Wertheimer navigiert antisemitische Diskriminierung und Auswanderung

Paris

Ruth Wertheimer wurde 1915 in Halberstadt (Sachsen-Anhalt) geboren. Dank der Erträge aus einem erfolgreichen Korsett- und Damenunterwäsche-Geschäft mit mehreren Filialen lebte die Familie in bequemen Verhältnissen. Allerdings soll das Familienunternehmen bereits 1929, mehrere Jahre vor der Machtübernahme durch die Nazis, durch eine verleumderische, antisemitisch motivierte Behauptung gegen eine der Inhaberinnen, Ruths Tante Johanna, wirtschaftlichen Schaden erlitten haben. 1932, auf der Handelsschule in Berlin, wohin die Familie in Ruths Kindheit umgezogen war, war Ruth durch Lehrer und Mitschüler dermaßen starkem Antisemitismus ausgesetzt, dass sie sich entschloss, ohne Abschluss abzubrechen. Der hier gezeigte Pass wurde am 16. Mai in Paris ausgestellt und gibt Paris als Ruths Wohnort an: Ihre Mutter und ihr Stiefvater waren 1935 dorthin ausgewandert. In Paris nahm Ruth ihre Ausbildung wieder auf.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Ruth Worth, AR 25024

Original:

Archivbox 1, Ordner 1

Mit Dirigentenstab im Tonstudio

Erich Wolfgang Korngold arbeitet an Auftrag der Warner Brothers

HOLLYWOOD

Vom ersten Augenblick war das Naziregime bestrebt, jeden Teil der menschlichen Existenz ideologisch zu durchdringen. Bereits 1933 wurde die Reichskulturkammer gegründet, um alle Aspekte kulturellen Lebens in Deutschland unter Kontrolle zu bringen. Obwohl er Staatsbürger und Einwohner Österreichs war, bekam der Komponist und Dirigent Erich Wolfgang Korngold bald die Auswirkungen dieser Veränderung zu spüren, denn er arbeitete viel in Deutschland: Jüdische Künstler waren nicht länger willkommen. In diesem Klima musste er nicht lange nachdenken, ehe er 1934 der Einladung Max Reinhardts folgte, die Filmmusik zu seiner Hollywood-Produktion von „Ein Sommernachtstraum“ zu schreiben. Mit seiner Einführung der symphonischen Filmmusik schlug er neue Wege ein und schuf den typischen „Hollywood-Klang“. 1937, während eines ausgedehnten Besuches in Wien, um die Orchestrierung seiner Oper „Die Kathrin“ zu vervollständigen, erhielt er eine Einladung der Warner Brothers, die Filmmusik zu „Robin Hood, König der Vagabunden“ zu komponieren. Dieser Auftrag ersparte ihm die Wirren des „Anschlusses“: Er kehrte lange vor dem 12. März 1938 in die USA zurück. Dieses Foto zeigt wahrscheinlich eine Aufnahmesitzung für den Soundtrack des Filmes, in dem Errol Flynn die Hauptrolle spielte. Der Schauspieler auf dem Foto ist Basil Rathbone, der Robin Hoods Erzfeind, Sir Guy von Gisbourne, spielte. Für seine überzeugende Partitur gewann Korngold einen Oscar – seinen zweiten nach „Ein rastloses Leben“ (1937).

Keine Zeit zu verlieren

Jüdisches Gemeindeblatt rät zum schnellen Sprachenlernen

„Dass die wichtigste Vorbereitung zur Auswanderung im Sprachstudium besteht, ist wahrhaftig keine Neuigkeit.“

HANNOVER

Im Mai 1938 schien das Thema „Auswanderung“ jeden Juden in Deutschland und Österreich zu beschäftigen. Dieser Artikel im Hannoverschen Jüdischen Gemeindeblatt z.B. hält zukünftige Auswanderer dazu an, keine Zeit zu verlieren und so bald wie möglich zu beginnen, Englisch zu lernen. Laut dem Blatt würden sich aller Wahrscheinlichkeit nach zwei Drittel der deutsch-jüdischen Emigranten in englischsprachigen Ländern niederlassen, und selbst diejenigen, die auf dem Weg nach Südamerika waren, würden von soliden Englischkenntnissen profitieren. Andererseits konnten wegen der umfangreichen Handelsbeziehungen zwischen Nord- und Südamerika auch spanische Sprachkenntnisse von Nutzen sein. Die Antwort auf die Frage „Spanisch oder Englisch?“ war daher ein nachdrückliches „Beides!“.

Betty Blum kämpft für ihren Sohn

Blick in die USA nach Verlust der Arbeitsstelle in Wien

Bruno, mein ältester Sohn, trägt seit Jahren zu unserem Unterhalt bei. Nun, nachdem er seine Stelle verloren und keine Aussicht auf eine neue hat, beabsichtigt er, das Land zu verlassen. Doch leider verschließen sich fast alle Länder vor Einwanderern. Daher sehe ich keine andere Möglichkeit als zu versuchen, eine Einreisegenehmigung in die Vereinigten Staaten zu bekommen.

Wien/New York

Unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Österreich waren jüdische Geschäfte und Firmen der Leitung „arischer“ Kommissare übergeben worden. Im Verlauf dieser „Arisierung“ – tatsächlich die Enteignung und der Raub jüdischen Besitzes – hatte der 30jährige Bruno Blum nach kaum mehr als vier Jahren seine Stelle bei der „Wiener Margarin-Compagnie“ verloren. Da sie begriff, wie gering die Chancen ihres ältesten Sohnes waren, unter dem Naziregime eine neue Stelle zu finden, wandte sich Betty Blum an ihren Cousin Moses Mandl in New York um Hilfe mit einer Bürgschaft. Als sie keine Antwort bekam, schrieb sie diesen Brief an ihren Neffen Stanley Frankfurter, um ihn zu bitten, Moses Mandl zuzureden oder mit der Bitte um Unterstützung an die Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS) heranzutreten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Blum Family, AR 25132

Original:

Archivbox 1, Ordner 5

Der trockene Humor eines Psychoanalytikers

Sigmund Freud feiert seinen letzten Geburtstag in Wien

Wien

Während Sigmund Freud, der „Vater der Psychoanalyse“, sicher die Bedeutung des „Anschlusses“ nicht unterschätzte – „Finis Austriae“ war der lapidare Kommentar, den er in seinem Tagebuch notierte – trieb ihn nicht einmal die Durchsuchung seines Verlages und seiner Wohnung durch die Nazis dazu, die Möglichkeit der Emigration zu untersuchen. Er soll sogar den unerbetenen Besuch der Nazis, die sich mit einer beträchtlichen Summe Geldes aus dem Staub gemacht hatten, mit der trockenen Bemerkung „Ich habe für einen einzigen Besuch nie so viel genommen“ kommentiert haben. Doch als seine Tochter Anna, selbst renommierte Psychoanalytikerin, kurz danach von der Gestapo verhört wurde, reagierte der gewöhnlich reservierte Freud hochemotional und begann, die verschiedenen Asylangebote abzuwägen, die er bekommen hatte. Der 6. Mai 1938 war sein letzter Geburtstag in Wien.

Gottvertrauen im Hier und Jetzt

Von Italien aus beruhigt Sigmund Hirsch seinen Neffen Julius

„Wegen der Politik, mache Dir, mein lieber Junge, nur keine Sorge. Tut Eure Pflicht wie bisher und ueberlasst alles Weiter Kodausch Boruch Hu. Persoenlich Ansichten gelten ueberhaupt nicht mehr; sonst wuerde ich Dir sagen, dass ich persoenlich an einen Krieg im Moment nicht glaube. Was man tun wird, wenn er Gott behuete wirklich kommt, wird sich dann zeigen. Kein Mensch ist weitsichtig genug, um voraussehen zu koennen, was kommen wird. Ihr werdet selbstverstaendlich in Italien bleiben. Aber wie gesagt, jede Diskussion ueber dieses Thema halte ich persoenlich fuer verfehlt, da kein Mensch den Krieg will, der nur den Ruin aller hervorrufen wuerde“.

Genua/Meran

Bereits 1935 hatte der orthodoxe Hamburger Arzt Henri Hirsch unter wachsendem Druck Deutschland verlassen und war zu seinem Bruder Sigmund in Genua in Italien gezogen. Kurz darauf schlossen sich ihm seine zweite Ehefrau Roberta und einige seiner erwachsenen Söhne an, um dann gemeinsam mit ihm nach Meran zu ziehen. 1938 starb Henri Hirsch. In diesem Brief von Sigmund Hirsch an seinen Neffen Julius versucht er, dem jungen Mann seine Sorge über einen bevorstehenden Krieg auszureden. Er redet ihm zu, auf Gott zu vertrauen und verspricht, den jungen Familienmitgliedern zur Seite zu stehen. Da er seit längerem in Italien war, scheinen viele ihre Hoffnungen auf ihn gesetzt zu haben: Mit spürbarem Bedauern berichtet er, wie wenig er für die „Tausenden“ von Menschen tun könne, die ihn um Hilfe bitten.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Julius and Edith Hirsch, AR 25585

Original:

Archivbox 1, Ordner 22

Hürden mit vielen Nullen

Die Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung verlangt viel Geld von auswandernden Juden

Berlin/Dresden

Bevor Martha Kaphan ihre Reise in das unter britischem Mandat stehende Palästina antreten konnte, musste sie bei der Dresdner Bank den sehr hohen Geldbetrag von 800 Reichsmark als Depositum für die Ausstellung eines Touristenvisums hinterlegen. Grundlage dafür war eine Bestimmung der Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung, die im NS-Staat maßgeblicher Träger der Ausplünderung auswanderungswilliger deutscher Juden war. Mit solchen Touristenvisa suchten einige tausend Juden als „illegale“ Einwanderer den Weg nach Palästina, um dort eine permanente Aufenthaltserlaubnis zu erlangen. Martha Kaphan emigrierte wohl nicht dauerhaft: Das britische Konsulat bestätigte 24. Dezember 1938 die Abreise, das Depositum wurde am 29. Dezember in Breslau ausgezahlt und das Konto am 10. Januar 1939 erledigt. Ob es sich hier um die 1877 in Militsch geborene Martha Kaphan handelt, die 1942 im Lager Grüssau interniert war, kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Hinterlegungsbescheinigung für den Erhalt eines Touristenvisums nach Palästina; Do2 2000/1000

Reisebüro „Kompass“

Auswandern ist schwieriger als es klingt

„Wollen Sie Ihre Verwandten hier haben? Brauchen Sie Hilfe, die Schwierigkeiten zu überwinden?“

New York

In einer Anzeige im „Aufbau“, die auf deutsche Einwanderer abzielte, bot das „Compass Travel Bureau“ in New York „fachmännische Beratung aller [sic] Einwanderungsangelegenheiten und die Erledigung aller Reiseformalitäten“. Wem es gelungen war, sich bis Mai 1938 noch ein wenig Optimismus zu bewahren, hätte meinen können, keine größere Anstrengung sei vonnöten. Doch die Beschaffung aller erforderlichen Dokumente konnte ein zermürbend langer Prozess sein: Juden, die verzweifelt versuchten, Deutschland zu verlassen, mussten zuerst Quotennummern und eine Unzahl von Dokumenten aus verschiedenen deutschen Behörden beschaffen und sich mit dem langsamen Postdienst abgeben, während sie versuchten, in Amerika Bürgen zu finden.

Möbel für Auswanderer

Werbeanzeigen spiegeln die Bedürfnisse der Zeit

Karlsruhe

Drei gut sichtbar plazierte Anzeigen auf der Titelseite des „Jüdischen Gemeindeblatts für Baden“ stellen klar heraus, was die Gemüter deutscher Juden im April 1938 bewegt: Das Thema „Auswanderung“ ist allgegenwärtig. Drei Firmen in Karlsruhe bieten Waren und Dienste in diesem Zusammenhang, wie Schiffskarten nach Südamerika, Afrika und Asien, Möbel für Auswanderer und Hausverkäufe. In der Ausgabe vom 27. April kommt das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zur Sprache: Das Schrumpfen der Gemeinden durch den Wegzug der Mitglieder, Englischkurse für künftige Auswanderer, der Weggang geschätzter Führungspersönlichkeiten, praktischer Rat, wie man während des Emigrationsprozesses die Unterstützung jüdischer Hilfsorganisationen erlangen könne, und mehr. Parallel dazu scheinen die Dinge in ihren gewohnten Bahnen zu verlaufen: Lehrhaus-Aktivitäten, Schülerkonzerte und Kulturbund-Veranstaltungen bilden ein Gegengewicht zur Anormalität der Situation.

Neubeginn mit 40

Moses Wainstein überwindet die Hürden internationaler Bürokratie

Marseille

Marseille war für die Exilanten einer der wichtigsten Abfahrthäfen nach Übersee. Hier beschaffte sich Moses Wainstein die restlichen Papiere für seine Emigration nach Uruguay. Diese Bescheinigung über eine Reiseimpfung war zur Vorlage bei den dortigen Behörden in Spanisch abgefasst. Seine Habseligkeiten hatte sich der Berliner bereits durch eine deutsche Spedition nach Marseille schicken lassen. Wainstein war zu diesem Zeitpunkt 40 Jahre alt.

QUELLE

Institution:

Deutsches Historisches Museum

Original:

Impfbescheinigung, ausgestellt auf dem Dampfer „Campana“ für Moses Wainstein.

Jahreschronik 1938

Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden

Ein von National-Sozialisten beschädigtes Geschäft in Wien. United States Holocaust Memorial Museum.

Hermann Göring erlässt die „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“. Dernach sind alle Juden im Deutschen Reich unter Androhung von Geld-, Haft- und Zuchthausstrafen angehalten, ihr Vermögen im In- und Ausland zu melden, wenn es den Betrag von 5.000 Reichsmark übersteigt. Alf Krüger, Ministerialrat im Reichswirtschaftsministerium, nennt die Regelung den „Wegbereiter zu der völligen und endgültigen Entjudung der deutschen Wirtschaft“. Drei Tage später wird in einem Arbeitstreffen bei Göring geplant, das jüdische Vermögen so umzuwandeln, dass es “keinen wirtschaftlichen Einfluss mehr gestatte[t]“. Göring erläutert später, dass in der Besprechung im April bereits der Beschluss gefasst wurde, „die deutsche Wirtschaft zu arisieren, den Juden aus der Wirtschaft heraus und in das Schuldbuch hineinzubringen und auf die Rente zu setzen. […] Die Entschädigung wird im Schuldbuch vermerkt und zu einem bestimmten Prozentsatz verzinst. Davon hat er zu leben.“ Nach den Novemberprogromen nutzten die Nationalsozialisten die erworbenen Daten als Grundlage, um den Juden ein Viertel ihres Vermögens abzunehmen. Als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Entschädigungsverfahren begannen, dienten die Daten dazu, die ursprünglichen Eigentümerschaften festzustellen.

 

Zur Jahreschronik 1938

Rasse, nicht Religion

Trotz Taufschein als Jude entlassen

„Wenn Sie kommen, werden wir unser Bestes tun, um Ihnen zu helfen. Sie können dem Kanadischen Hochkommissar versichern, dass wir die Verantwortung für Sie übernehmen, so dass sie dem Staat nicht zur Last fallen werden“.

Wien/Winnipeg

In düsteren Zeiten wie diesen bedeutete ein Brief, der eine Arbeitsmöglichkeit in Kanada versprach, einen immens wichtigen Hoffnungsschimmer. Obwohl er im Besitz dessen war, was Heinrich Heine bekanntlich als „Entréebillet zur europäischen Kultur“ bezeichnete – einen Taufschein – wurde Anton Felix Perl 1938 aus „rassischen“ Gründen von seiner Stelle als Assistenzarzt im Wiener Allgemeinen Krankenhaus entlassen. Zu seinem Glück genoss er die Unterstützung eines so prominenten Fürsprechers wie dem Erzbischof von Winipeg, der ihm in diesem Brief vom 25. April 1938 wertvolle Ratschläge bezüglich der Einwanderung nach Kanada erteilte und ihm praktische Hilfe versprach.

Grüßen ist gefährlich

Eine jüdische Ärztin beschreibt den Alltagswahnsinn

„Vater sagt, er will die Firma nicht verkaufen. Der Name, er soll mit uns untergehen [...]“.

Laupheim

Das Tagebuch Dr. Hertha Nathorffs (geb. Einstein) vermittelt ein lebendiges und manchmal alptraumhaftes Bild von den Erfahrungen der jüdischen Ärztin in Nazi-Deutschland. Am 24. April beschreibt sie einen Besuch bei ihren Eltern in ihrem Geburtsort Laupheim in Schwaben: Viele jüdische Geschäfte waren verkauft worden, ihre Besitzer emigriert. Die Bemühungen der Nazis, die Juden zu verleumden und zu isolieren, waren so erfolgreich gewesen, dass die Vorübergehenden Angst hatten, sie zu grüßen. Ihr Vater hatte ihr mitgeteilt, er werde die Firma, seit vier Generationen im Familienbesitz, nicht verkaufen, sondern lieber mit ihrem Namen untergehen. Das Ausmaß der Isolation, der deutsche Juden ausgesetzt waren, geht auch aus einer Episode hervor, die im selben Eintrag erwähnt wird: Dr. Nathorff ist überrascht, dass ihr ehemaliger Professor tatsächlich den Mut hatte, ihr durch eine Patientin Grüße ausrichten zu lassen.

Fachkräfte wandern aus

Das Ärztepaar Brinitzer geht nach Indien

Bangalore

Jenny Brinitzer wurde 1884 in Riga, Lettland geboren. Nach Studien in Bern, Berlin und Kiel gelang es ihr, sich als erste Ärztin in Hamburg Altona niederzulassen. Dort praktizierte die Mutter dreier Kinder 20 Jahre lang in einer Gemeinschaftspraxis mit ihrem Mann, dem Dermatologen Dr. Eugen Brinitzer. 1933 machten Juden etwa ein Viertel der Hamburger Ärzteschaft aus. Jüdische Kassenärzte und Ärzte im öffentlichen Dienst wurden gleich in den ersten beiden Jahren des Naziregimes entlassen. Ab 1935 war eine Liste von etwas 150 jüdischen Ärzten in Hamburg im Umlauf, die im Zusammenhang mit den Bemühungen der Nationalsozialisten entstanden war, „arische“ Patienten von jüdischen Ärzten zu trennen. Im April 1938 verließen Dr. Jenny Brinitzer und ihr Mann Deutschland und wanderten nach Bangalore, Indien aus.

Ein jüdisches Filminstitut?

Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda tut seinen Job

Berlin

Laut einem Bericht der Jewish Telegraphic Agency genehmigte das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda am 21. April die Einrichtung eines Jüdischen Filminstituts. Der Name war irreführend: Es war nicht zur kulturellen Bereicherung der jüdischen Öffentlichkeit gedacht. Der Hauptzweck des Instituts sollte die Produktion von Filmen sein, die das Leben in Palästina zeigten und deutsche Juden zur Emigration drängten. Mit anderen Worten, der Plan war ein weiterer Teil der Strategie der Nazis, Deutschlands Juden „aus dem Weg zu räumen“. Zur selben Zeit erklärte „Der Stürmer“, eines der schärfsten antisemitischen Blätter in Nazi-Deutschland, Juden müsse der Zutritt zu Kinos und Theatern verwehrt werden.

Vorerst verschont

Ehemailige Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs genießen zeitweiligen Schutz

Wien

Adolph Markus, seine Frau und zwei Kinder gehörten zu den relativ wenigen von Österreichs etwa 200.000 Juden, die nicht in Wien lebten. Am 20. April 1938 fuhr Markus in die Hauptstadt, um seine Familie zu besuchen, die schwierige Situation zu besprechen und Auswanderungsmöglichkeiten zu diskutieren. Während sein Bruder Rudi jeden Tag damit rechnen musste, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, meinte er, Adolph habe als Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs nichts zu befürchten. Tatsächlich waren ehemalige Frontkämpfer und Juden, die ihren Vater oder einen Sohn im Kampf für Deutschland oder seine Verbündeten verloren hatten, von gewissen anti-jüdischen Maßnahmen ausgenommen.

54 Jahre

Der Graphiker Michel Fingesten feiert seinen Geburtstag im Exil

Triest

Nach Studien an der Wiener Kunstakademie war der Graphiker Michel Fingesten auf Reisen gegangen und hatte sich schließlich in Deutschland niedergelassen. Weder die jüdische Abstammung des österreichischen Staatsangehörigen noch seine Vorliebe für das Erotische machten ihn bei den Nazis beliebt. Die immer unerträglichere Rassenpolitik des Regimes veranlasste ihn, nach einem Familienbesuch in Triest 1935 in Italien zu bleiben. Fingesten ist in erster Linie als Illustrator und als produktiver, fantasievoller Gestalter von Exlibris bekannt. Der 18. April 1938 war sein 54. Geburtstag.

Glück im Unglück

Eine Geschäftsreise hält Alfred Schütz im sicheren Ausland

„Es ist auch nach allen Erfahrungen nur zu berechtigt, wenn ihre Frau in der Korrespondenz höchst vorsichtig ist und Sie bittet, es ebenso zu sein. Der Verdacht der Verbreitung von ‘Greuelnachrichten’ genügt, um einen in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen“.

London

Alfred Schütz, ein Weltkriegsveteran, hatte an der Universität Wien Jura, Soziologie und Philosophie studiert. Seit Ende der zwanziger Jahre war er bei dem Internationalen Bankhaus Reiter & Co angestellt. Während des deutschen Einmarsches in Österreich war er zufällig auf Geschäftsreise in Frankreich. Er entschloss sich, im Ausland zu bleiben. Ein Freund, der von London aus Wien besucht hatte, schreibt über sein Gespräch mit Schütz‘ Ehefrau Ilse. In seinem Brief rät er Schütz davon ab, nach Österreich zurückzukehren, da das neue Regime dem internationalen Bankwesen gegenüber misstrauisch sei. Angesichts der drohenden Gefahr erschien es Schütz als bessere Option, sich vorübergehend von der Familie zu trennen, als in seine Heimatstadt zurückzukehren.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Alfred Schutz, AR 25500

Original:

Archivbox 1, Ordner 18

Das Geschäft mit der Flucht

Deutsche Speditionsfirmen profitieren von der Vertreibung der Juden

„Im übrigen ist der Verlust von Ihnen so spät gemeldet worden, dass die Frist für die Anmeldung verstrichen ist. Die Versicherungs-Gesellschaft wird Ersatz irgend eines Verlustes nach so langer Zeit glatt ablehnen“.

Berlin/London

Deutsche Speditionsfirmen profitierten auf vielfache Weise von der düsteren Situation der Juden: Kein Weg führte an ihnen vorbei, um den Transport des Besitzes der Emigranten an den neuen Standort zu bewerkstelligen. Bereits Ende 1937 hatten 135.000 Juden Deutschland verlassen. Die Ereignisse des Jahres 1938 führten zu einem erneuten Anstieg. Die Spedition Gustav Knauer, deren Berliner Niederlassung das Umzugsgut Lotte Doerners (geb. Simon) abfertigte, hatten eine weitere lukrative Aufgabe gefunden: den Transport vieler der 20.000 Objekte aus deutschen Kunstmuseen, die durch das Regime als „entartet“ eingestuft wurden, zu der berüchtigten Ausstellung „Entartete Kunst“ nach München und von dort zur Einlagerung. Frau Doerner und ihrem Mann war es gelungen, Deutschland zu verlassen und sich in England niederzulassen. Beim Auspacken ihrer Sachen stellten sie fest, dass ihre Wäsche fehlte. Im hier gezeigten Brief teilt die Firma Frau Doerner höflich mit, auf ihrer Seite sei alles korrekt abgewickelt worden.

QUELLE

Institution:

Jüdisches Museum Berlin

Sammlung:

Brief von Gustav Knauer an Lotte Dorner, Sammlung Dorner, Schenkung von Steven Dorner.

Die Grenzen des Einzelnen

Fritz Machlup signalisiert Bedenken und Hilfsbereitschaft

„Gestern, an einem einzigen Tage, erhielt ich sage und schreibe 11 Ersuchen um Einwanderungsaffidavits, darunter die Ersuchen von gemeinsamen Freunden“.

Buffalo, New York/Wien

Dank eines Rockefeller-Stipendiums, das 1933 an ihn vergeben worden war, hatte der herausragende Wiener Volkswirtschaftler Fritz Machlup Österreich Jahre vor dem „Anschluss“ verlassen. 1935 erhielt er eine Professur für Volkswirtschaftslehre an der Universität Buffalo. Es überrascht nicht, dass Freunde und Kollegen ihre Hoffnungen darauf setzten, ihn als Bürgen zu gewinnen, als die Nazis in Österreich Fuß zu fassen begannen. In diesem Brief vom 5. April an seinen Freund Alfred Schütz äußert er die Sorge, seine Hilfsversprechen, so vielen gegeben, würden an Glaubwürdigkeit verlieren. Er fügt aber dennoch ein Schreiben bei, in dem er Schütz anbietet, ihm bei der Niederlassung in den Vereinigten Staaten behilflich zu sein.

QUELLE

Institution:

Leo Baeck Institute – New York | Berlin

Sammlung:

Sammlung Alfred Schutz, AR 25500

Original:

Archivbox 1, Ordner 17

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