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„Ich habe gelernt, dass menschliches Leiden unteilbar ist“
Am Dienstag, dem 13. Juni 1961, war Walter Plaut, Rabbiner des Tempel Emanuel in Great Neck, New York, einer von 18 Geistlichen an Board des Miami Express Busses, der um 11.15 Uhr das Greyhound Terminal in Washington D.C. verließ. Die Männer – sieben Schwarze und sieben weiße protestantische Geistliche und vier weiße Rabbiner – begaben sich auf einen zweitägigen interreligiösen Freedom Ride nach Tallahassee, Florida. Ihr Ziel war es, gegen die rassistische Segregation in den Busbahnhöfen entlang der Strecke zu protestieren. 1960 hatte der Supreme Court, der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, mit dem Urteil im Fall Boynton v. Virginia die „Rassentrennung“ im zwischenstaatlichen Personenverkehr verboten, nachdem dem Schwarzen Jura-Studenten Bruce Boynton die Bedienung in einem Restaurant „nur für Weiße“ (im Original: „whites only“) in einem Trailways Busterminal verweigert worden war. Der Fall war von Thurgood Marshal verhandelt worden, der 1967 zum ersten afro-US-amerikanischen Richter an den Supreme Court berufen werden würde.
Trotz des Urteils wurde die Diskriminierung Schwarzer Fahrgäste an vielen Busbahnhöfen in den Südstaaten von Zivilist:innen und der Polizei weiterhin gewaltsam durchgesetzt. Die Strategie der Freedom Riders, das Antisegregationsgesetz in die Praxis umzusetzen, bestand darin, in kleinen Gruppen aus Schwarzen und weißen Teilnehmern gemeinsam in den Restaurants der Busterminals zu essen und die Toiletten und Wartebereiche zu nutzen. Der Interfaith Freedom Ride wurde vom Congress of Racial Equality (CORE) gesponsert, der die Teilnehmer zuvor auch in gewaltfreiem antirassistischem Aktivismus geschult hatte.
Rabbiner Walter Plauts Teilnahme am Interfaith Freedom Ride ist in einem Sammelalbum in den digitalisierten Beständen des Archivs des Leo Baeck Instituts dokumentiert. Ein Zeitungsausschnitt darin zeigt, dass seine Teilnahme am Freedom Ride nicht das erste Mal war, dass er sich antirassistisch engagierte: 1940, während er das Hebrew Union College besuchte, leitete Walter Plaut das Cincinnati Greater Racial Amity Committee, das unter anderem gegen die sognannte Rassentrennung in Kinos vorging. 1961 sah er seinen antirassistischern Aktivismus dann als wesentlichen Teil seiner Pflichten als Rabbiner und erklärte der Presse: „Die Kluft zwischen Worten und Taten zu überbrücken, ist immer schwierig. Aber ich habe eine Führungsposition inne und das heißt, dass Du Deine Überzeugungen mit gutem Beispiel vorleben musst.“ Walter Plaut selbst war nach seiner Flucht vor den Nationalsozialist:innen im August 1937 als 18-jähriger in den USA angekommen. Seine eigenen Verfolgungserfahrungen hatten zu seiner Entscheidung, am Freedom Ride teilzunehmen, beigetragen: „(...) Ich war selbst Zeuge des Holocausts am europäischen Judentum. Meine unmittelbare Familie wurde gerettet, aber der Rest meiner weit verstreuten Familie wurde von den Nazis ermordet. Ich habe gelernt, dass menschliches Leiden unteilbar ist, und deshalb habe ich ein besonderes Mitgefühl für die schreckliche Lage der Schwarzen Menschen [im Original: ‚Negroes‘] im Süden.“
Einer seiner Mitreisenden am Interfaith Freedom Ride, Rev. Arthur L. Hardge, Pastor der Union African Methodist Episcopal Zion Church in New Britain, CT, kommentierte: „Auch hinsichtlich dieser konkreten Fälle von Verfolgung sind diese Geistlichen der allgemeinen Ansicht, dass jegliche Verfolgung von Minderheiten die gesamte Zivilisation gefährdet. Wäre dies ein Kampf gegen Antisemitismus an Stelle des Kampfes für die Bürgerrechte von Schwarzen Menschen [im Original: ‚Negroes‘] gewesen, bin ich überzeugt, dass wir sie ebenso leidenschaftliche unterstützt hätten, wie sie uns.“
Einige Mitglieder von Rabbiner Plauts Gemeinde in Great Neck jedoch waren gegen seine Teilnahme am Freedom Ride. Drei Tage vor seiner Abfahrt erhielt er vom Präsidenten seines Tempels ein Telegramm, in dem dieser ihn dazu aufforderte, seine Teilnahme abzusagen:
Trotz dieser Aufforderung hat Rabbiner Plaut die Busreise in den Süden angetreten. Deren Teilnehmer waren sich der Gefahren, denen sie auf ihrem Weg begegnen könnten, durchaus bewusst. Ein Monat zuvor waren viele der ersten Freedom Riders Opfer von staatlicher und ziviler Gewalt geworden. Aktivist:innen wurden verhaftet, als sie sich der rassistischen Segregation widersetzten, und von Mobs weißer Rassisten, teilweise unterstützt von der Polizei, brutal angegriffen. In Anniston, Alabama, wurde eine Brandbombe in den Bus der Freedom Riders geworfen, während Fahrgäste an Bord waren, und in Birmingham wurden sie von einer Menge weißer Rechtsextremisten brutal zusammengeschlagen. Zahlreiche Aktivist:innen waren schwer verletzt worden.
Die Interfaith Freedom Riders legten am ersten Tag ihrer Reise zunächst einen Zwischenstopp in Richmond, Virginia, ein und erreichten später ihr Ziel in Raleigh, North Carolina. Da die Räumlichkeiten an beiden Haltestellen bereits desegregiert waren, nutzte die Gruppe die Gelegenheit, ihr Vorgehen für die Stationen weiter südlich zu proben, an denen sie mit Widerstand rechneten. Der Bus machte außerdem einen zusätzlichen Halt in South Hill, Virginia, wo der Fahrer ein Frachtpaket ablieferte. Nachdem sie ein Schild mit der Aufschrift „Nur für Weiße“ (im Original: „whites only“) an der Haltestelle gesehen hatten, stiegen die Geistlichen aus dem Bus. Einige von ihnen wären dann beinahe zurückgelassen worden, als der Fahrer losfuhr, ohne auf die Rückkehr aller gewartet zu haben. Nach diesem Vorfall äußerten sich Mitglieder der Gruppe gegenüber der Presse besorgt darüber, dass das Busunternehmen Greyhound versuchen könnte, ihre Mission zu untergraben. In Raleigh angekommen, übernachteten die Freedom Riders auf dem Campus der historisch afro-US-amerikanischen (im Original: „historically Black“) Shaw University, wo im April 1940 die Bürgerrechtsorganisation Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) gegründet worden war.
Am zweiten Tag ihrer Reise fuhr die Gruppe nach Sumter, South Carolina. Da es im dortigen Busbahnhof kein Restaurant gab, aßen die Passagier:innen üblicherweise etwas außerhalb der Stadt bei Evans Motor Court. Als die geistlichen Freedom Riders den Speisesaal dort betreten wollten, wurden sie von einem Mob von 20 bis 30 Zivilist:innen, dem örtlichen Sheriff und seinen Stellvertretern aufgehalten. Rabbiner Walter Plauts Bericht über diesen Vorfall erschien später in der Long Island Press:
Daraufhin wurde die Gruppe informiert, dass der Evans Motor Court in keiner Verbindung zur Firma Greyhound stünde und daher auch kein an die Entscheidung des Supreme Court gebundenes interstaatliches Transportunternehmen sei. Nach einer Diskussion unter den Interfaith Freedom Riders darüber, ob sie ihren Protest fortsetzen sollten, beschloss ein Teil der Gruppe, wieder in den Bus zu steigen und die Fahrt fortzusetzen – zum Missfallen derjenigen, die darauf bestanden hatten, in Sumter zu bleiben. Anschließend wurden sie von den Mitgliedern einer Schwarzen Kirchengemeinde, die bereits im Mai die CORE-Freedom Riders empfangen hatte, mit einem Gottesdienst willkommen geheißen. Am späten Abend setzten sie ihren Weg nach Florida fort und trafen sich während eines Halts in Jacksonville mit einer Gruppe von fünf Aktivisten der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) zum Frühstück.
Am 15. Juni schließlich erreichten die Interfaith Freedom Riders ihren letzten Halt in Tallahassee. Im Trailways Busterminal trafen sie auf eine Menge aggressiver Zivilist:innen und zwei Freedom Riders wurden von zwei weißen Männern aus den Toiletten gedrängt. Nach einer Diskussion mit der Polizei, konnten sie die Toiletten beim zweiten Versuch betreten. Die Gruppe hatte geplant von Tallahassee aus abzureisen und fuhr zum Flughafen, wo sie noch gemeinsam zu Abend essen wollten. Nachdem sie zunächst an etwa 20 Gegnern, die vor dem Terminal gewartet hatten und von denen zwei als Anführer des rechtsextremen White Citizens Council identifiziert wurden, vorbeigekommen waren, mussten die Freedom Riders feststellen, dass das Flughafenrestaurant anlässlich ihrer Ankunft geschlossen worden war. Rabbiner Walter Plaut und sieben weitere Geistliche traten daraufhin ihre Rückreise an, um an den in ihren Gemeinden geplanten Veranstaltungen teilzunehmen.
Die zehn weiteren Aktivisten beschlossen, so lange in Tallahassee zu bleiben, bis das Restaurant wieder öffnen und sie dort bedient werden würden. Nachdem sie neun Stunden, und damit bis zur Schließzeit des Flughafens, gewartet hatten, nahmen sie ihren Versuch, dort zu essen, am nächsten Morgen wieder auf.
Zusammen mit lokalen Aktivist:innen und umringt von der Polizei warteten sie fünf Stunden lang im Terminal, während im Hintergrund Floridas Gouverneur C. Farris Bryant die Situation beobachtete und sogar den Justizminister Robert F. Kennedy telefonisch um Hilfe bat. Den Freedom Riders wurde ein Ultimatum zum Verlassen des Flughafens gestellt. Als sie diesem nicht nachkamen, wurden sie verhaftet und ins städtische Gefängnis gebracht. Am nächsten Tag wurden sie auf Kaution freigelassen. Ihre Gerichtsverfahren dauerten drei Jahre lang und endeten mit Verurteilungen. Einer der Geistlichen zahlte eine Geldstrafe, die anderen neun mussten 1964 kurzen Haftstrafen verbüßen.
Die Teilnahme der Rabbiner am Interfaith Freedom Ride wurde von vielen Vertreter:innen jüdischer Organisationen, wie etwa der Union of American Hebrew Organizations, begrüßt. Deren Entwurf für eine Erklärung zu den Freedom Rides bewahrte Walter Plaut in seinem Sammelalbum auf:
Nach seiner Rückkehr lud Rabbiner Walter Plaut die Öffentlichkeit in Great Neck zu einer Veranstaltung ein, in der er über seine Erfahrungen auf dem Interfaith Freedom Ride berichten wollte. Auch hier stieß er mit seinem Engagement für die Bürgerrechtsbewegung bei einigen Gemeindemitgliedern auf Ablehnung. In einem Flugblatt, das als Reaktion auf die Einladung verfasst worden war, wurde die Aufforderung verbreitet, dem Vortrag fernzubleiben:
Der Riss, der Rabbiner Plauts Gemeinde auf Grund seiner Teilnahme am Freedom Ride spaltete, war tiefgehend und verletzte ihn sehr. Er beschloss dennoch nach seiner Rückkehr eine hoffnungsvolle Botschaft zu vermitteln und äußerte gegenüber der Presse, dass „dieses Problem (die rassistische Segregation) in absehbarer Zukunft praktisch nicht mehr existieren wird.“
Leider blieb Rabbiner Walter Plaut zu wenig Zeit, um weiterhin zur Abschaffung der rassistischen Segregation beizutragen. Plaut, der bereits erkrankt gewesen war, als er am Freedom Ride teilnahm, starb am 3. Januar 1964 im Alter von 44 Jahren an einer Krebserkrankung – sechs Monate bevor mit dem Civil Rights Act ein wichtiger Erfolg für das Anliegen, für das er sich engagiert hatte, gelungen war.
Die Teilnehmer des Interfaith Freedom Ride waren:
C. Donald Alstork, Pastor, Dyer Phelps AME Zion Church (Saratoga, NY)Robert McAfee Brown, Pastor und Theologe (New York, NY)John W.P. Collier, Pastor, Israel Memorial AME Church (Newark, NJ)Israel Dresner, Rabbiner, Temple Sharey Shalom (Springfield, NJ)Malcolm Evans, Pastor, Church of the Crossroads (Brooklyn, NY)Martin Freedman, Rabbiner, Congregation B’nai Jeshurun (Paterson, NJ)Arthur L. Hardge, Pastor, Union AME Zion (New Britain, CT)Wayne “Chris” Clyde Hartmire, Jr., Pastor, East Harlem Protestant Parish (New York, NY)George J. Leake, Pastor, Durham AME Zion Church (Buffalo, NY)Allan Levine, Rabbiner, Temple Beth-El (Bradford, PA)Petty McKinney, Pastor, Eliza Ann Gardner AME Zion Church (Springfield, MA)Walter Plaut, Rabbiner, Temple Emanuel of Great Neck (Great Neck, NY)Henry Proctor, Pastor, AME Zion Church (Syracuse, NY)Ralph Lord Roy, Pastor, Grace Methodist Church (New York, NY)
Plaut, Joshua Eli, My Father’s Journey on a Freedom Ride Bus, ReformJudaism.org, 2016, geschrieben von Walter Plauts Sohn, der das Sammelalbum seines Vaters dem Leo Baeck Institute gestiftet hat.
Arsenault, Raymond, Freedom riders: 1961 and the struggle for racial justice. Oxford University Press, 2006. (Eine ausführliche Beschreibung des Interfaith Freedom Ride findet sich in Kapitel 8.)
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