Das Leo Baeck Institut hält die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums lebendig.
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Der dichte Staub auf den Koffern vibriert, als Frank Mecklenburg sie im Leo Baeck Institut (LBI) abstellt. Aber auch ohne den Puder der Zeit wäre klar, dass diese Koffer weitgereist sind, und das nicht erst seit gestern. Uralt-Aufkleber der American Airlines sowie des „Grand Hotel & Kurhaus Huis ter Duin“ in Holland heften an den abgewetzten Lederdeckeln. Die Gepäckstücke sind die neueste Schenkung archivalischen Materials an das LBI. „Robin Hirsch hat uns die beiden Ko ffer seiner Eltern übergeben“, erzählt Frank Mecklenburg, Forschungsleiter des LBI. „Sie enthalten Fotos, Dokumente und private Korrespondenz seiner Eltern vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1970er-Jahre hinein.“ Herbert Hirsch und Käthe Lewald flohen vor den Nationalsozialisten von Berlin nach London.
Dort, im Exil, wurde 1942 Sohn Robin geboren. Im LBI treten die Ko ffer ihre letzte Reise an. Ziel ist die langfristige Erhaltung der Geschichte(n), die sie bergen. Es kommt immer wieder vor, dass Koffer, Kisten, Säcke und Plastiktüten mit historischem Material im LBI zum ersten Mal seit langer Zeit geö ffnet oder zumindest in Gänze durchforstet werden. Zur Zeit macht das Sophia Stolf. Die Studentin absolviert einen Master in Soziokulturellen Studien in Berlin und ist gerade zu einem dreimonatigen Praktikum in New York. Vorsichtig öffnet sie die stumpfen silberfarbenen Beschläge. Sie hebt den Deckel an. Zutage tritt ein Sammelsurium an Papieren: Briefe, Ausweise, Fotos. Einige sind mit Packschnur zusammengebunden, einige in Plastiktüten gewickelt, andere lose hineingelegt. „Das Material, mit dem wir es hier zu tun haben, stammt in der Regel aus Familienbeständen“, erläutert Hermann Teifer, Archivleiter des LBI.
Die Spender gehören meistens der zweiten Nachkriegsgeneration an und haben die Dokumente von der Elterngeneration geerbt, die ihrerseits bereits Nachkriegsgeneration ist. Das bedeutet, das Material hat sich über die Jahrzehnte hinweg mehr und mehr von den Menschen der Generation entfernt, für die es die größte Bedeutung hatte. „Für die heutigen Erben dieser Familiennachlässe ist dieses Material oftmals lediglich Teil eines umfassenderen Nachlasses, der verwaltet werden will. Es kann dann passieren, dass dieser Teil aus Zeitgründen oder aus mangelndem Interesse in den Hintergrund rückt und unbesehen von Historikern oder Archivaren in Abstellkammern oder auf Dachböden landet“, erklärt Teifer weiter. „Deshalb kommen die Materialien, die wir erhalten, häufig ungeordnet in Kisten, Säcken oder Plastiktüten hier an.“ Gleichzeitig macht es deutlich, wie wichtig die einzelnen Stationen sind, die die beiden Koffer nun durchlaufen.
Zuerst entnimmt Sophia Stolf das komplette Material und legt es, Seite für Seite, in Mappen ab, die dann in blaue Archivkartons kommen. Soweit wie möglich behält sie dabei das ursprüngliche Arrangement des Materials bei und heftet es in genau der Reihenfolge ab, in der der Spender das Material dem LBI übergeben hat. Sobald die Ordner in die dafür vorgesehenen Kisten abgelegt sind, versieht Teifer sie mit einer Signatur. Mit dieser Nummer, die mit AR25 beginnt und auf einer Seriennummer endet, kann Teifer die Kisten in den Onlinekatalog eingeben.
Im Anschluss wandern die Kisten ins Archiv zu Dianne Ritchey. Sie nimmt die detaillierte Bearbeitung des Materials vor. Dazu sichtet sie jedes Dokument und erfasst dessen Funktion, Inhalt und Bedeutung. Sie verfeinert die Organisation des Materials und verleiht den Mappen, in denen es abgeheftet wird, präzise Titel. In Fällen, bei denen keine ursprüngliche Anordnung erhalten ist, legt sie das Material entsprechend bestimmter Kategorien, wie Genre und Format (z.B. Impfpässe, Fotografien, Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden), Personen (z.B. Autoren oder Subjekte der Sammlung), Entstehungszeitpunkt oder schlichtweg in alphabetischer Ordnung an. Dies alles hält sie mithilfe einer sogenannten Extensible Markup Language (XML), einer „erweiterbaren Auszeichnungssprache“, fest. Ritcheys XML ist eine Auszeichnungssprache zur Darstellung hierarchisch strukturierter Daten in Form von Textdateien und heißt Encoded Archival Description (EAD). Mit ihr erstellt sie die Findhilfe, in der sie die jeweiligen Materialien auflistet, zusammen mit einer Kurzbeschreibung vom Inhalt des Ordners und den Titeln, die der Ordner enthält. Benötigt ein Interessent ein Dokument oder Bild im Original, kann er beim LBI Zugang dazu erhalten.
Um Ressourcen und Material zu schonen und um die Dokumente online zugänglich zu machen, digitalisiert Grigoriy Ratinov das Material. Dazu scannt er die einzelnen Seiten im JPEG 2000 Format ein und erstellt eine PDF-Datei. Das Masternegativ der Sicherheitsfilmkopie druckt er als Positivkopie, die im Mikrofilm-Lesegerät benutzt werden kann. Zu Sicherungszwecken erstellt er außerdem ein Duplikat des Negativs.
Jeder Spender erhält ein Schreiben, das seine Schenkung bestätigt und einen Stiftungswert von 500 Dollar pro laufendem Fuß (0,3 Meter) angibt. Eine Schenkungsurkunde regelt die Rechte von LBI und Spender. „Hin und wieder kommt es vor, dass wir im Aufbereitungsprozess des uns anvertrauten Materials auf delikate Dokumente stoßen. In diesen Fällen halten wir mit den Spendern Rücksprache, ob sie das Material tatsächlich verö ffentlichen möchten“, erzählt Frank Mecklenburg. „Wir möchten ein umfassendes Bild des jüdischen Alltags im deutschsprachigen Raum bewahren. Deshalb sind Archivalien aus Gemeinden, familiären Nachlässen und Unterlagen aus diversen Bevölkerungsgruppen für uns von großem Interesse.“ Für Privatbesitzer ist der Wert dieses Materials nicht immer gleich erkennbar, für die Augen der Archivare schon.
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